Hagen/Werl. . Nach mehreren Familientragödien, bei denen Elternteile Kinder mit in den Tod genommen haben, fordert die Deutsche Kinderhilfe verbindliche Standards und Frühwarnsysteme, um auf Alarmsignale angemessen reagieren zu können.

Vor acht Tagen wurden die Leichen einer 44 Jahren alten Mutter und ihrer 12-jährigen Tochter in einer Wohnung in Werl gefunden. Zuvor war das Mädchen der Staatsanwaltschaft Arnsberg zufolge eine Woche lang nicht in ihrer Schule erschienen. Für Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe ist eine solche Tragödie kein Einzelfall. Er fordert einheitliche, verbindliche Standards und Frühwarnsysteme, um auf Alarmsignale angemessen reagieren zu können.

Vor dem Haus in der Werler Innenstadt brennen nach wie vor Kerzen, die an das traurige Geschehen erinnern sollen. In der Realschule, auf die die 12-Jährige ging, sind Lehrer, Pfarrer und Notfallseelsorger damit beschäftigt, den Kindern etwas begreifbar zu machen, was nicht begreifbar ist. Dass eine Mutter sich und ihr Kind umbringt.

Tragödien haben einen Vorlauf

In der Öffentlichkeit hat sich der Begriff der Familientragödie eingebürgert. Georg Ehrmann hält ihn für unglücklich gewählt: „Man schiebt alles auf die Familie ab. Dabei haben solche Tragödien Vorläufe.“ Der Kinderschützer erkennt fernab des Werler Falls grundsätzlich Schwachstellen im System. Häufig war ein Elternteil bereits vor der Tat psychisch auffällig. „Bei deren ärztlicher und psychologischer Behandlung werden die Kinder, die mit im Spiel sind, oftmals nicht ausreichend berücksichtigt.“

Zum Beispiel dadurch, dass Mediziner und Psychologen Kontakt zur Jugendhilfe aufnehmen. „Das sieht das Gesetz nicht vor“, sagt Ehrmann. Gleiches gelte für den Umgang der Schule mit Jungen und Mädchen, die tagelang nicht zum Unterricht erscheinen. „Da ist es jeder Schule überlassen, wie sie die Sache handhabt. Es besteht bei Abwesenheit eines Kindes keine Rechtspflicht zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt“, spricht der Geschäftsführende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe das Problem fehlender einheitlicher Fachstandards an.

Die Bezirksregierung Arnsberg als Aufsichtsbehörde bestätigt, dass es keine Vorgaben für Schulen gibt, wie sie in Fällen unentschuldigten Fernbleibens vom Unterricht vorgehen müssen. „Jede Schule ist selbst dafür verantwortlich, Vereinbarungen zu diesem Thema, zum Beispiel in einer Hausordnung, abzuschließen“, sagt Sabine Kneer, Sprecherin für den Bereich Schule bei der Bezirksregierung.

Nicht ausreichende Vernetzung

Es fehlt ein Mechanismus, ein Automatismus, der greift, wenn Kinder unentschuldigt in der Schule fehlen. „Das Jugendamt kann nur so gut sein, wie es Informationen erhält“, sagt Kinderschützer Ehrmann und kritisiert die nicht ausreichende Vernetzung von „Hilfssystemen in der Umgebung der Familie, die es ja gibt“. Zum Beispiel Schule, Kindergarten, Jugendamt und Kinderarzt. Weil oftmals die Schnittstellen dieser Institutionen fehlten, fordert er gesetzgeberische Aktivitäten: „Es muss auf Länderebene klar geregelt werden, was in besonderen Situationen zu tun ist.“

Tragödien wie die in Werl sind nie hundertprozentig zu verhindern, weiß Georg Ehrmann. Aber einfach die Akte zu schließen und zur Tagesordnung über zu gehen, sei nicht der richtige Weg. Der Kinderschützer fordert eine Fehlerkultur, die eine Aufarbeitung ermögliche, die Schwachstellen identifiziert.

Aber auch in der Gesellschaft generell müsse ein Umdenken einsetzen, findet der Chef der Deutschen Kinderhilfe: „Zivilcourage und soziales Hinsehen müssen zu einer Selbstverständlichkeit werden.“ Wiewohl Menschen, die Kinder in Gefahr wähnen, Möglichkeiten geschaffen werden müssen, sich an entsprechende Stellen zu wenden. „Wenn ein Ölfilm auf der Ruhr schwimmt, kann man die Hotline des Staatlichen Umweltanrufes rund um die Uhr anrufen. Für Kinder in Risikosituationen gibt es so etwas nicht.“