Warstein. . Manche Menschen meistern Schicksalsschläge, ander brechen zusammen: Woran das liegt, erklärt der Warsteiner Psychiater Josef Leßmann im Interview.

Warum meistern manche Menschen Schicksalsschläge und gehen sogar gestärkt daraus hervor, während andere zusammenbrechen? Es liegt an der psychischen Widerstandskraft. Resilienz nennen das Psychologen. Josef Leßmann, Ärztlicher Direktor der LWL-Kliniken Warstein und Lippstadt, spricht von „Hornhaut auf der Seele“. Die wird dünner, stellt er fest. Das macht ihm Sorgen.

Was beobachten Sie?

Psychiater Josef Leßmann.
Psychiater Josef Leßmann. © WP

Josef Leßmann: Die Belastbarkeit geht vor allem bei jüngeren Menschen zurück. Nach 32 Jahren in der Psychiatrie und nach 19 Jahren als Gutachter habe ich den Eindruck, dass wir immer weniger verlässliche Leistungsträger haben.

Das liegt an mangelnder Resilienz?

Josef Leßmann: Das ist ein Begriff aus der Technik. Damit wird die Fähigkeit eines Materials beschrieben, nach einer elastischen Verformung in den Ausgangszustand zurückzukehren. Man kann sich das gut vorstellen bei einem Fußball. Was die Seele angeht, wähle ich aber lieber den Vergleich zu einem Roggenhalm. Der ist Wind und Regen und Hagel und Sonne und Dürre ausgesetzt. Er wird schwanken, er wird vielleicht zu Boden gehen, aber wenn seine Wurzeln gesund sind, wird er wieder aufstehen. Und heute knicken viele Menschen schon bei einem kleinen Schauer um.

Die Wurzeln sind nicht fest genug?

Josef Leßmann: Wurzeln bilden sich eben auch durch Erfahrungen mit widrigen Umständen.

Sie sprechen die Erziehung an?

Josef Leßmann: Oder die Nicht-Erziehung. Kinder müssen entsprechend ihrem Reifegrad gefördert und gefordert werden, nicht als Partner der Eltern behandelt. Sie brauchen Sanktionen, positive wie negative. Und Vorgaben, was richtig ist und was falsch, was erlaubt und was verboten ist.

Also klare Grenzen?

Josef Leßmann: Eine klare Struktur. Und in Analogie zum Roggenhalm: Es muss auch ein Wind wehen, damit sich Wurzeln ausbilden. Es braucht Konflikte und Auseinandersetzungen. Eltern müssen Liebe und Empathie zeigen, dürfen aber ihrem Kind nicht alle Schwierigkeiten abnehmen. Es muss selbst Aufgaben und Verantwortung übernehmen und lernen, in der Gemeinschaft zurechtzukommen.

Und sie warnen nun?

Josef Leßmann: Psychiatrie und die Psychotherapie müssen sich einstellen auf gesellschaftliche Entwicklungen und sagen: Da ist etwas im Gange. So wie Internisten vor der wachsenden Zahl von Diabetes-Fällen warnen.

Und was sehen Sie?

Josef Leßmann: Die Früh-Verrentungen wegen psychischer Erkrankungen steigen jedes Jahr. Die Kliniken sind voll, Psychotherapeuten haben lange Wartezeiten. Vielleicht wird sogar vorschnell ein Arzt aufgesucht. Das ist Teil des Problems: Alles wird an vermeintliche Experten delegiert. Der unaufmerksame, unruhige Schüler wird z. B. an den Ergotherapeuten verwiesen. Der Therapeut soll etwas für den Patienten tun, damit alles wieder gut wird. Aber jeder Mensch trägt für sich selbst Verantwortung.

Lässt sich Resilienz später im Lerben noch erlernen?

Josef Leßmann: Durchaus. Es fällt jedoch schwerer, die eigenen Stärken zu entdecken und zu fördern, wenn Menschen kein Nein gewöhnt und auf sofortige Bedürfnisbefriedigung eingestellt sind, wenn sie nicht gelernt haben, stehen zu bleiben, wenn sie eins auf die Zwölf bekommen.

Sie sind pessimistisch?

Josef Leßmann: Wie wollen unstrukturierte junge Erwachsene von heute eigenen Kindern Struktur geben?

Wir müssen wieder härter werden?

Josef Leßmann: Es geht um die Frage: Hornhaut oder Wundcreme? Also: An Herausforderungen wachsen oder Wunden lecken?

Um in Ihrer Roggen-Analogie zu bleiben: Kommen Probleme nicht auch daher, dass der Boden lockerer geworden ist (Traditionen) und die Ähren weiter voneinander weg stehen (Einzelkinder)?

Josef Leßmann: Um so wichtiger sind starke Wurzeln.