Siegen. . Die 84-Jährige Kläre Thiel lebt in dem Studentenwohnheim in der Siegener Andreas-Schlüter-Straße in einem Haus mit lauter jungen Leuten und alle finden’s gut. Wir wissen, warum.
Studentenwohnheim Andreas-Schlüter-Straße, viertes Obergeschoss. Pengyn Lu öffnet die Tür, Baby Beiwei auf dem Arm. „Frau Thiel!“, sagt er freudig. Mit seiner Lebensgefährtin Jing Xu lebt der junge Chinese seit Kurzem in Siegen, alles ist fremd, die kleine Familie muss sich zurechtfinden. Kläre Thiel hilft dabei, auf ihre Weise, mit kleinen Gesten, Hilfsbereitschaft, einem freundlichen Lächeln. Sie ist wie die gute Seele des Wohnheims. Eine 84-Jährige unter Studis.
Frau Thiel fängt gleich an, den kleinen Beiwei zu knuddeln. Lu spricht noch nicht gut Deutsch, aber was macht das schon, Freundlichkeit funktioniert überall. Eine Familie zieht ein, die Wohnung ist noch nicht fertig, keine Frage, die jungen Leute übernachten bei ihr. Zum Dank wird sie zum Essen eingeladen und sie spendiert Kaffee oder passt auf den Hund auf.
Keiner soll sich fremd fühlen. Sie nimmt die Post entgegen, unten am Eingang klebt ein Zettel für die Zusteller. „Grade die Chinesen bekommen schwere Pakete von Zuhause“, sagt sie, „wenn sie aus der Uni kommen, müssen sie doch nicht erst ins Zentrum, ich bin doch da.“ Die Studenten holen die Päckchen bei ihr, so lernt man sich kennen. „Wir wohnen doch alle im gleichen Haus. Da hilft man einander. Und das sind alles so nette junge Leute hier“, sagt Frau Thiel und lacht glockenhell. Die feinen Lachfältchen um die Augen hat sie sich redlich verdient.
Grüßen hat noch keinem geschadet
1967 mietete sie mit ihrer Familie die Wohnung, die Hausgemeinschaft war gut, viele junge Familien, man kennt sich, hilft sich. 2013 kaufte das Studentenwerk das Haus, Frau Thiel kaufte es mit. Jetzt wohnen Studenten im Haus, die jungen Leute sind wieder da, „wunderschön“, sagt sie und meint das so. Im Haus ist sie bekannt wie ein bunter Hund, wer einzieht oder öfter kommt, begegnet ihr bald. Man trifft sich im Flur. Als erstes bringt die „Bestandsmieterin“, so heißt sie in der Studentenwerks-Kartei, den Leuten das Grüßen bei. Die Menschen laufen oft aneinander vorbei, das findet sie schade.
Auf dem Flur begegnet ihr ein Pärchen. Zu Besuch? Nein, grade eingezogen. „Wenn was ist, kommen Sie gerne zu mir!“, sagt sie. Neue Umgebung, fremdes Haus, unbekannte Menschen. Ein freundliches Gesicht ist ein Stück Zuhause, man wohnt im gleichen Haus und hat was zum Reden, so sieht sie das.
Ein junger Mann grüßt nicht zurück. Das nimmt Frau Thiel ihm nicht übel, „der hat sich bestimmt nicht getraut.“ Sie sagt einfach weiter fröhlich Hallo. Irgendwann klappte es. „Hier wird gegrüßt“ lacht sie. Laute WG-Partys? Nein. „Manchmal denke ich, es kann doch nicht sein, dass das hier ein Studentenwohnheim ist.“
Sie mag die Menschen und die Menschen mögen sie
Im Moment ist es leider laut, die Arbeiter sind da. Die Mietwohnungen werden WG-tauglich umgebaut, das Haus ist eingerüstet, wird neu gedämmt. Überall kratzt und bohrt es, der Lärm macht der 84-Jährigen zu schaffen. „Die tun mir so leid bei all dem Lärm und Dreck“, sagt sie mitfühlend. Gram ist sie den Männern nicht, was können die denn dafür, „die machen auch nur ihre Arbeit.“ Morgens stellt sie ihnen zwei Flaschen Wasser auf den Flur und ein paar Gläser. Darüber ein Geschirrtuch. „Damit sie nicht staubig werden“, erklärt sie. „Meine Männer“ nennt sie sie.
Mittags wartet auf ihrem Balkon im sechsten Stock oft eine Kaffeetafel, Zuckerdose und Milchkännchen, die harten Kerle freuen sich. Sie ruft mit ihrer zarten Stimme zur Mittagspause und die Maschinen ruhen. Auf dem Weg nach unten begegnet ihr einer der Arbeiter. „Regen, Frau Thiel“, warnt der Mann.
Sie mag die Menschen und die Menschen mögen sie. Viele ehemalige Studenten halten Kontakt. „Zwei sind bei der Marine in Bremerhaven und schreiben ständig“, sagt sie und findet das schön. Sie muss noch Geburtstagspost einwerfen an einen der beiden. Vor Kurzem hat ihr ein junger Mann zum Dank für ein entgegengenommenes Paket Bolognese-Soße gebracht. „Goldig!“, ruft sie. Dabei möchte sie gar keine Gegenleistung. „Ich mach das doch gern, ich bin doch da!“
Gemeinsames Feiern
Als sie eines Abends nach Hause kommt, repariert die WG eine Etage tiefer die Flurlampe. Sie bringt sofort eine Birne runter, sie hat ja noch welche. Jetzt braucht sie noch Butter. „Bis ich aus dem Supermarkt wieder hier bin, ist die zerlaufen“, überlegt sie, aber der Torsten von unten, „netter Junge“, bringt ihr welche mit. „Ich bin doch auch da, Frau Thiel“, sagt er.
Auch wenn es grade laut ist, sie wohnt gerne Tür an Tür mit den Studenten. „Wenn alles fertig ist, gibt es ein großes Fest“, sagt die Dame aus dem sechsten Stock, das hat sie sich vorgenommen. Ihre Studenten machen alle mit.