Siegen. . Rosemarie Achenbach ist die wohl älteste Doktorandin in Deutschland. Mit 90 Jahren schreibt die Seniorin an der Universität Siegen derzeit ihre Doktorarbeit. Ihr erstes Studium musste sie in den Wirren des Zweiten Weltkriegs abbrechen. Das Thema ihrer Arbeit hat auch mit dem Altern zu tun.

Sie ist ungefähr im 142. Semester. Statt Semesterferien hatte sie zu Beginn ihres Studiums Kriegseinsätze. Und statt Hochschulsport musste sie Sporttestate erbringen – flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, wie es damals hieß. Rosemarie Achenbach ist vielleicht die außergewöhnlichste, in jedem Fall aber die älteste Studentin der Universität Siegen: Mit 90 Jahren schreibt sie an ihrer Dissertation. Ein Besuch bei einer, die etwas erlebt und etwas zu sagen hat.

Wie viele ältere Damen ist Rosemarie Achenbach klein, eine zierliche Person, aber kerzengrade. Wie 90 sieht sie nicht aus. Andere wirken mit Mitte 70 älter. Barfuß geht sie ins Wohnzimmer, wo noch die Geburtstagstafel steht. Sie will ihre Hörgeräte holen, schnellt aus dem Sofa, wie eine junge Frau, findet sie aber nicht. „Das kommt davon, wenn man so schlau ist“, sagt sie und der Schalk blitzt aus ihren hellblauen Augen.

Arbeitsdienst statt Hörsaal

1942 legte Rosemarie Achenbach Abitur ab. Aber einfach so studieren? Nicht in Hitlerdeutschland. Ein halbes Jahr Arbeitsdienst in der Landwirtschaft, ein halbes Jahr Kriegshilfsdienst als Straßenbahnschaffnerin, das waren die Voraussetzungen zum Studium. „Viele Männer bekamen das Abitur geschenkt, damit sie schnell in den Krieg ziehen konnten“, sagt Achenbach. „Später mussten sie als Hauptmann oder Major wieder die Schulbank drücken.“ In München, kurz nach der Festnahme der Geschwister Scholl, immatrikulierte sie sich für Kunstgeschichte und wechselte nach einem Semester zur Psychologie mit den Nebenfächern Philosophie und Psychiatrie. Durchweg mit Kommilitoninnen. Kaum Männer, „nur ein paar Schwerverletzte kamen in Uniform.“

Die ersten Semesterferien verbrachte Rosemarie Achenbach als Zimmermädchen in einem Feldlazarett und in der Küche. „Die Maschinerie hatte mich erfasst.“ Dem System war nicht zu entkommen. Rosemarie Achenbach verschlug es in die besetzten Gebiete nach Polen. Anfang 1945, als die Rote Armee näher rückte, floh sie mit dem Pferdekarren. Die Erlebnisse lassen sie auch nach 70 Jahren nicht los. Eine Mutter flehte sie an, wenigstens ihre beiden kleinen Kinder mitzunehmen. Kein Platz. Eine Diakonisse schenkte den Halbverhungerten und -erfrorenen ein Butterbrot.

2004 nahm sie nach dem Tod ihres Mannes ihr Studium wieder auf. Diesmal mit Philosophie im Hauptfach. Warum? Nach dem Krieg heiratete Rosemarie Achenbach, wurde Frau eines Pfarrers. „Eine Pastorenfrau im Siegerland hatte bei ihrem Mann im Beruf mitzuarbeiten und sich treu dafür einzusetzen.“ Mit Anfang 20 war ihre akademische Karriere vorbei. „Meine drei Kinder haben alle einen akademischen Abschluss, aber die Mama war nix.“ Das sollte so nicht bleiben. Den Abschluss hatte sie sich immer so sehr gewünscht.

Uni hat alte Scheine anerkannt - nach 60 Jahren 

Die Uni Siegen ermöglichte es ihr, in den Magister einzusteigen, die alten Scheine der Ludwig-Maximilians-Universität München konnte sie sich anrechnen lassen - nach 60 Jahren. Rosemarie Achenbach bekam innerhalb kurzer Zeit ihr „Vordiplom“. „Ich habe aber manche Veranstaltungen neu besucht, um zu beweisen: Die Frau ist nicht verdooft.“

Ihre Magisterarbeit zum Thema „Der Gottesbegriff unter der Perspektive verschiedener Religionen“ schrieb sie natürlich auf dem Laptop. Ihr Sohn schaute nach theologischer Stimmigkeit, die Tochter nach der neuen Rechtschreibung, die Enkelin half bei der Formatierung.

Die wissenschaftliche Arbeit bekommt ihr. „Im hohen Alter baut man schneller ab, wenn man’s schlackern lässt“, sagt Rosemarie Achenbach. Aber Synapsen bilden sich so lange neu, wie man das Gehirn fordert. „Man lernt anders, langsamer, besser nahe miteinander verknüpfte Dinge als völlig Neues.“ Mündliche und schriftliche Magisterprüfung absolvierte sie innerhalb von vier Tagen. Manchmal macht sie die Nacht zum Tag und schaut fern, weil nachts oft so interessante Sendungen kommen. „Mein Mann hatte das nicht so gern...“

"Philosophie des Todes" als Dissertations-Thema

Wieder schnellt Achenbach aus dem Sofa hoch, öffnet den Schrank, darin Ablagestapel zu den Kapiteln ihrer Arbeit. Hirnforschung, Quantentheorie, Simone de Beauvoir, C.G. Jung, alles Mögliche fließt in ihre Arbeit mit ein. "Die Philosophie des Todes", das ist das Thema von Achenbachs Dissertation - „verrückt, ne?“, fragt sie schelmisch. „Aber ich werde nicht depressiv, man hat einfach eine andere Nähe zum Tod als früher“, erklärt Achenbach.

Ihre Erlebnisse als eigene Primärquelle fließen in die Dissertation mit ein. Kontakt mit dem Tod hatte sie in ihrem Leben genug. Im Lazarett, bei Bombenangriffen, unter Beschuss, sogar im Urlaub in Acapulco bei einem schweren Erdbeben. Jedes Mal hat sie die Todessituationen, das mögliche eigene Sterben, anders wahrgenommen. „Junge können, Alte müssen sterben“, sagt sie.