Niederschelden. Bei Baggerarbeiten für eine Garage ist am Freitag gegen 8 Uhr in der Mozartstraße in Niederschelden eine Granate aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden worden. Der Kampfmittelräumdienst der Bezirksregierung Arnsberg sprengte das Geschoss am Nachmittag vor Ort kontrolliert. Es gab keine Schäden.

Granatenfund am Morgen, Evakuierung am Vormittag, warten, warten warten, Entwarnung am frühen Nachmittag. Acht nicht ganz gewöhnliche Stunden in Niederschelden im Ticker.

8.00 Uhr: Baggerführer Ximi Miftari hat eine Bombe auf der Schaufel seiner Baggers. Er schachtet das Gelände aus für eine Garage hinterm Haus von Garten- und Landschaftsbauer Ferat Ferizi (46) in der Mozartstraße 7. Ferizi selbst steht neben der Schaufel und weiß sofort worum es sich dabei handelt. Erst vor zwei Jahren hatte er beim Arbeiten in Kaan-Marienborn eine Granate gefunden. Diese entschärfte der Kampfmittelräumdienst aus Arnsberg und transportierte sie ab. Ferat Ferizi ruft die Polizei. Das rostige Geschoss, eine deutsche Sprenggranate für ein Flakgeschütz, hebt Ximi Miftari vorsichtig von der Schaufel und legt es im Garten ab.

8.15 Uhr: Ferat Ferizi informiert Nachbarn über den gefährlichen Fund.

8.25 Uhr: Die Polizei trifft in der Alten Dreisbach ein. Die Beamten informieren das Ordnungsamt der Stadt Siegen, die wiederum den Kampfmittelräumdienst in Arnsberg alarmiert.

9.40 Uhr: Sprengmeister Volker Lenz und Kollege Udo Rischel treffen in der Mozartstraße ein. „Die Granate konnten wir nicht mitnehmen“, sagt er später. Die 88 Millimeter Granate war mit einem mechanischem Zeitzünder ausgestattet.Ein Transport wäre zu risikoreich geswesen. Zwischen 690 und 900 Gramm TNT-Sprengstoff enthalten solche Granaten. Volker Lenz entscheidet sich, sie zu sprengen.

11.00 Uhr: Ordnungsamtsleiter Herbert Keßler ruft den Hausmeister der Rundturnhalle Niederschelden, Reiner Stöhr, an: Granatenfund. Reiner Stöhr (67), der den Job noch aushilfsweise als Urlaubsvertretung macht, soll die Halle aufschließen und sich bereit halten, wenn die ersten Anwohner, die ihre Häuser verlassen müssen, ankommen.

11.30 Uhr: Kein Durchkommen ins Evakuierungsgebiet in der Alten Dreisbach. Die Polizei riegelt ab.

11.55 Uhr: Besprechung der freiwilligen Feuerwehr-Einsatzkräfte an der Einsatzleitstelle am Europaplatz. Die Aufgaben werden verteilt. Die Einheiten rücken aus, um die Anwohner im Umkreis von 150 Metern vom Fundort der Granate aufzufordern, die Wohnungen zu verlassen. Nach ersten Meldungen soll die Bombe zwischen 14 und 15 Uhr gesprengt werden.

12.01 Uhr Freiwillige Helfer des DRK Eisern-Eiserfeld werden per Pieper alarmiert. Sechs treffen eine halbe Stunde später an der Turnhalle ein.

12.15 Uhr: Die Feuerwehr klingelt an allen Haustüren. Bewohner von Mozartstraße, Beethovenstraße, Schubertstraße, Waldesruh und zum Teil auch anderer Straßen werden aufgefordert, sich in der Rundturnhalle Niederschelden zu melden. Sie werden entweder dorthin gefahren oder verlassen die Sperrzone mit dem eigenen Wagen. Die Rettungskräfte gehen von außen nach innen vor. Zunächst die unteren Straßen, dann hoch zur Mozartstraße. Auch Bürgermeister Steffen Mues ist mittlerweile vor Ort. Schafe und Ponys, die auf einer Weide gleich neben dem Haus grasen, müssen mit einem Viehtransporter abgeholt werden.

12.35 Uhr: Die Ersten kommen in der Turnhalle an. Tanja Voosen mit ihren Hunden Nero und Digger an der Leine: „Ich habe so etwas schon einmal im Studium in Jülich erlebt. Mein erster Gedanke war: Papiere! Alles andere kannst du ersetzen. Ich könnte jetzt das Land verlassen.“ Sie lacht. Die Stimmung: entspannt.

Der Räumdienst aus Arnsberg legt die Zündschnur 

13.10 Uhr: Rund 90 Menschen sitzen mittlerweile in der Turnhalle. Etwa 150 hat das Ordnungsamt auf der Liste. Namen und Adressen der Anwohner werden sorgfältig aufgenommen. „Es muss sichergestellt sein, dass alle aus der Zone raus sind“, sagt Frauke Langer vom DRK. Es könnte ja sein, dass jemand schläft – zum Beispiel, weil er sich nach der Schicht hingelegt hat. Das DRK gleicht die Daten mit dem Melderegister ab. Wenn Zweifel steht, dass noch jemand im Haus sein könnte, müssten sich die Rettungsleute Zugang zur Wohnung verschaffen. Auch Erkrankungen werden in der Turnhalle abgefragt, damit die DRK-Mitarbeiter auf alles vorbereitet sind. Hilfsroutine. Viele haben Diabetes. Es sind jede Menge 70 und 80 Jahre alte Menschen da.

13.12 Uhr: Heike Schür kommt in Sportklamotten. „Die Polizei hat mich beim Joggen abgefangen und gefragt, wo ich wohne“, erzählt sie. „Ich durfte noch nicht einmal kurz in die Wohnung. Heike Schür hat Durst. Wasser? Gibt es derzeit nur aus dem Kran.

13.15 Uhr: Eine Anwohner sorgt sich. „Ich versorge meine Nachbarin, die Frau Nöll. Ist sie hier? Ich sehe sie nicht.“ Eine DRK-Mitarbeiterin schaut auf die Liste. Der Name steht dort nicht.

13.16 Uhr: Der Räumdienst aus Arnsberg legt die Zündschnur. Die Granate liegt jetzt in einem zwei Meter tiefen Loch und wird mit Erde und Sand zugeschüttet. Von der Explosion wird wenig zu hören und nichts zu sehen sein, sagen die Experten.

13.39 Uhr: Jetzt gibt es Wasser im Evakuierungszentrum. Die Betreuungseinheit der Malteser aus Netphen ist angerückt. Sie versorgen dieMenschen. Die Stimmung ist weiter sehr entspannt, trotz Hitze. Draußen sind es 35 Grad Celsius. In der Turnhalle ist es immerhin etwas kühler.

13.22 Uhr: Menschen mit Vorerkrankungen wie Diabetes werden aufgerufen. Sie erhalten Kärtchen, damit die Helfer im Ernstfall schneller reagieren können.

13.48 Uhr: Bürgermeister Steffen Mues ist an der Rundturnhalle eingetroffen und plaudert mit den Anwohnern.

13.55 Uhr: Ein Mann wird im Krankenwagen liegend zur Rundturnhalle gefahren. Einige alte Menschen wurden ebenfalls so dorthin transportiert. Der leitende Notarzt entscheidet in diesem Fall aber, dass der Mann in ein Krankenhaus gebracht wird. Er benötigt eine Sauerstoffzufuhr. „Die Versorgung muss hier 100-prozentig gewährleistet sein“, begründet der Notarzt die Entscheidung.

14.20 Uhr: Steffen Mues teilt mit, dass die Granate wahrscheinlich innnerhalb der nächsten Stunde gezündet wird. Dutzende Torfsäcke werden rund um das jetzt zugeschütteten Sprengloch aufgestellt, damit sie Splitter abfangen können, falls doch etwas schief geht. Die Fassade des Hauses in der Mozartstraße 7 wird außerdem mit Holzplatten abgesichert.

14.25 Uhr: Gertrud Graf (86), Dorothee Kühn (76) und Eva Wermter (78) sitzen auf Bänken in der Rundturnhalle. Auch Frau Nöll sitzt dort, die Dame, die vor 70 Minuten noch vermisst wurde. Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg werden bei den Damen wach. „Das war schlimm damals, als die Sirenen heulten. Das will man wirklich nie wieder erleben“, sagt Eva Wermter. „Wir nehmen das heute daher ganz gelassen“, ergänzt Getrud Graf. Frau Graf hätte jetzt gerne einen Kuchen und Kaffee, Frau Kühn eine Bockwurst mit Senf und Frau Wermter eine Erbsensuppe. „Der Service lässt zu Wünschen übrig“, sagt Dorothee Kühn und lacht.

14.55 Uhr: Es gibt Nudelsuppe. Auch die drei Damen bedienen sich.

15.00 Uhr: Die Feuerwehr meldet: Evakuierung abgeschlossen.

15.02 Uhr: Die Granate wird gesprengt.

15.15 Uhr: Durchsage per Megafon in der Rundturnhalle: „Bitte sammeln Sie sich. Die Granate ist gesprengt worden. Wenn der Bereich freigegeben ist, können Sie in Ihre Wohnungen zurückkehren“, sagt Einsatzleiter Steffen Schmidt.

15.40 Uhr: Die Sperrung ist aufgehoben. Schadenbilanz: nullkommnull. Sprengmeister Volker Lenz ist zufrieden. „Es war ein dumpfer Knall“, erzählt er. In der rechten Hand hält er zwei kleine Trümmerteile der Granate, die er ausgegraben hat. „Das zeigt mir, dass die Sprengung funktioniert hat. 150 Gramm Semtex, ein Plastiksprengstoff, hat er mit in die Grube gegeben, um die Garante zu vernichten. Routine? „Eine Sprengung darf nie Routine werden“, sagt er.

15.50 Uhr: Viele Nachbarn schauen bei Ferat Ferizi vorbei und wollen den Ort der Sprengung begutachten.