Siegen. . Ein begeistertes Publikum erlebte im Apollo-Theater, wie auf der Bühne die Vorurteile und Klischees der Integrationsdebatte frech und unterhaltsam aufgezeigt, kritisch zerpflückt und provozierend hinterfragt wurden. Es dreht sich um die umstrittene Aufführung von “Verrücktes Blut“.
Schon beim Berliner Theatertreffen 2011 hatte das Multikulti-Ensemble von Theater Ballhaus mit dem Stück „Verrücktes Blut“ von Nurkat Erpulat und Jens Hillje Aufsehen erregt. Jetzt reisen die Spieler damit durch die Lande – offenbar mit großem Erfolg. Siegener Theaterfreunde, die zu Hause geblieben sind, haben etwas Ungewöhnliches versäumt.
Unterricht mit der Waffe in der Hand
Die Ausgangssituation ist schnell geklärt: Die Deutschlehrerin am Gymnasium in einem kulturellen Brennpunkt will mit ihren Schülern Schiller lesen, um sie mit der deutschen Leitkultur vertraut zu machen. Die Schüler haben anderes im Kopf und in ihren Gliedern: Aggressionen, Machtkämpfe, Rassismusauswüchse, sexistische Übergriffe. Da stört die Lehrerin nur mit ihrem pädagogischen Eifer.
Da passiert etwas: Aus dem Rucksack eines Schülers fällt eine Pistole, und die Lehrerin greift zu. Mit vorgehaltener Waffe in der einen und dem Reclam-Klassiker in der anderen Hand macht sie nun Literaturunterricht. Die Schüler sind platt und gehorchen und werden somit in einen Erkenntnisprozess hineingezwungen. An dessen Ende wissen sie: Auch bei Schiller geht es um Fragen, die in ihren Kulturen und in ihrer gegenwärtigen Situation brisant sind: Frauenmord der Ehre wegen (in „Kabale und Liebe“); Rache der Ausgegrenzten und Entrechteten („Die Räuber“). Und sie lernen, dass der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt. So stellt Schiller das in seinen Briefen über die „Ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ dar – eine tiefe Wahrheit, welche die Frage provoziert, wann wir in dieser Welt denn wirklich „ganze“ Menschen sind und sein können.
Vielleicht, wenn wir singen wie die Schüler: wunderschön „Wenn ich ein Vöglein wär“ oder „Nun ade, du mein lieb Heimatland“ oder „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand“? Schöne deutsche Lieder, makellose, aber leere Worte und Weisen, wenn die Heimat woanders ist. Also: Nun ade, du schöne Leitkultur? Sicher.
Einsicht und Hoffnung
Aber die Autoren zeigen einen anderen Schluss (oder eigentlich mehrere Schlüsse). Einer davon ist: Mariam reißt ihr Kopftuch ab, um damit den brutalen Musa zu fesseln: Selbstbefreiung, nicht um einem Mann zu gefallen, sondern um einen gesellschaftlichen Schädling aus dem Verkehr zu ziehen, der – wie schön können Märchen doch sein! – dann auch tief bereut.
Viel Absurdität und im Lachen der Zuschauer die tiefe Einsicht, wie schwer es ist, die Gräben zwischen den Kulturen zu überwinden. Und dennoch die Hoffnung zu behalten, dass das (im Sinne Schillerscher Humanität?) gelingen könnte. Wie hier auf der Bühne im großartigen Spiel.