Dreis-Tiefenbach. .
„Herr Kapellmeister. Bitte...“ Punkt 15 Uhr gibt Susanne Tuppeck ihrem Neffen am Regiepult das Startsignal. Marco Sekulla fängt mit „Was kann schöner sein?“ an. Und dann muss die Tanzlehrerin gar nicht mehr lange animieren. Zur Sehnsuchtsmelodie drehen sich um die 15 Paare im Walzerschritt übers Parkett.
Ausflug ins ganz normale Leben
Es sind ältere und alte Frauen und Männer, die sich auch an diesem dritten Mittwoch des Monats in der Tanzschule Im Takt einfinden, im ehemaligen Gesellschaftssaal des Dreisbacher Hammers. Manchen hilft Michael Gomberg zwar mit dem Scalamobil die Treppe hinauf. Oben auf der Tanzfläche aber braucht keiner mehr den Rollator. Mittlerweile bildet sich da auch der eine oder andere Reigen.
„Jetzt geht’s schneller“, sagt Susanne Tuppeck und lässt „Puppets on A String“ auflegen. Sandie Shaw gewann damit 1967 in Wien den Grand Prix. Noch haben viele die Puste, den Ohrwurm zum Discofox mitzusummen. Eva Vitt, die Netphener Seniorenbeauftragte, hat die Gäste am Eingang im Empfang genommen und freut sich nun über die lachenden und summenden Paare: „Und auf der Tanzfläche sieht man es keinem an.“ Richtig: Ob „es“, die Demenz nämlich, einen, beide oder keinen der Tanzpartner getroffen hat, spielt beim Kaiserwalzer keine Rolle.
„Wir tanzen wieder“ ist ein Vergnügen für viele: für die Tochter, die ihre Eltern hierhin begleitet, für die ambulant betreute Wohngemeinschaft, für Gruppen aus der Tagespflege, für den alten Herrn, der ganz allein mit dem Auto von Kreuztal über den Berg kommt, für die rüstige Seniorin aus Siegen, die keine Berührungsängste beim Umgang mit Demenz hat. Tanzstunde im perfekt ausgestatteten Altenheim? „Das ist genau das, was wir nicht wollen“, sagt Susanne Tuppeck.
Es geht um Normalität, um Teilhabe. Und darum, das Grau aus dem Alltag herauszupusten, das die Tanzlehrerin auch bei ihrem eigenen, dementen Vater wahrnimmt. „Manchen kullern vor Glück die Tränen“, erzählt Susanne Tuppeck, die sich für die besonderen Gäste hat schulen lassen. „Da muss man anderthalb Stunden voll konzentriert sein.“ Mit dem Vermitteln von Schrittfolgen hat das gar nichts zu tun.
Textsicher beim Schlagerraten
Zum Ausruhen wird zwischendurch ein Schlagerrätsel eingelegt, das die Senioren nicht wirklich herausfordert: Die Gesellschaft ist ausgesprochen textsicher bei der „Nacht mit Charly“ und den „Souvenirs“ von Bill Ramsey. Zum Moviestar von Harpo und zur Dancing Queen von Abba wirbeln oder schieben sich die Tanzschulengäste je nach Kondition und Temperament dann schon wieder übers Parkett in dem Saal mit der Spiegelwand. Dort wird dann auch bald der Höhepunkt jedes Nachmittags erreicht: die Polonaise. Gleich mehrmals muss Marco Sekulla die „Anneliese“ abfahren.
Brigitte Weber-Wilhelm vom Demenz-Servicezentrum findet den Tanznachmittag im Johannland und bei Michael Gomberg und seinen Mitstreitern von Vergissmeinnicht Netphen genau richtig aufgehoben. Ein ähnliches Angebot im wohl weniger frohsinnigen Siegen sei gescheitert — vor 15 Jahren: „Vielleicht war die Zeit auch einfach noch nicht reif.“ Im Saal wird noch gesteppt und der Körperzellenrock geturnt. Susanne Tuppeck fordert zu einem letzten Tanz auf, „Bye-bye, my Love...“ Und dann sind alle platt. Man ist schließlich nicht mehr 17.