Siegen. .

Wie ein Depp hätte ich dagestanden, auf Gleis 2 am Bahnhof Weidenau. Mit meinem Rollstuhl wäre ich niemals die Treppe hinunter und kurz darauf die nächste hinauf gekommen, um durch die Unterführung den Busbahnhof zu erreichen. Aber glücklicherweise kommt eine freundliche junge Dame, die mich im Auftrag der Bahn mit den beiden Aufzügen fahren lässt. Nur sie hat nämlich den Schlüssel zum Lift.

Wie absurd! Als Teilnehmer der AWO-Rallye „Stand – Land – Barriere“ erlebe ich nun am eigenen Leib diesen Bahnhof-Weidenau-Aufzug-Schlüssel-Personalanfrage-Irrsinn, über den ich vor etlichen Jahren das erste Mal als Journalist schrieb. Schon damals war das Thema nicht neu. Genau auf solche Schwierigkeiten, auf die Menschen mit Handicap im ÖPNV stoßen, möchte der AWO-Kreisverband Siegen-Wittgenstein/Olpe mit der Aktion zum heutigen Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung aufmerksam machen.

Der steht in diesem Jahr unter dem Motto „Jede Barriere ist eine zu viel“. Die AWO schickte deshalb gestern 30 Leute auf neun Routen quer durch Siegen und Umgebung: Sechs Zweiergruppen im „Team Fußgänger“, neun im „Team Rolli“, wobei letztere aus einem Rollstuhlfahrer und einer gehenden Begleitperson bestehen. Behinderte und Nicht-Behinderte machen mit, Lokalpolitiker und Leute von Verbänden und Pressevertreter sind dabei. Fünf der neun Rolli-Fahrer sind nicht „echt“ – die AWO will den Teilnehmern durch eigene Erfahrung neue Perspektiven auf das altbekannte Thema „Barrierefreiheit“ ermöglichen. Ich bin eine der Mogelpackungen. Zur Seite steht mir Achim Bell, für die UWG Mitglied im Siegener Rat und Lehrer an der AWO-Förderschule in Netphen-Deuz.

Wir reisen inkognito. Corinna Schleifenbaum, Pressesprecherin der AWO, hatte schon im Vorfeld um absolute Geheimhaltung und Diskretion gebeten, um den Praxistest unter realistischen Bedingungen laufen lassen zu können. Geheimhaltung, unerkannt bleiben – das hat doch etwas von Agentenjob. Dann nimmt Achim Bell auch noch den Umschlag mit Instruktionen und unserer Reiseroute entgegen. Es ist fast wie bei „Kobra, übernehmen Sie“, nur dass sich die Nachricht nicht nach fünf Sekunden selbst vernichtet.

Die Strecke ist vorgegeben: Dillnhütten und wieder zurück. „Mensch“, denke ich mir, „Dillnhütten – da wolltest Du doch schon immer mal hin!“ Vom Bahnhof Siegen geht es über die Schiene nach Weidenau. Es ist nicht viel los. Achim Bell wartet mit mir am Bahnsteig, der Zug fährt ein. Ich schaue auf die Stufen an den Türen. Da komme ich mit dem Rollstuhl jedenfalls nicht drüber.

Der Lokführer sieht uns, spricht uns an, klappt mir eine falt- und tragbare Rampe aus. Ein wirklich freundlicher und zuvorkommender junger Mann, der allerdings auch nichts dafür kann, dass die Rampe sehr steil ist. Hätte ich da alleine hochrollen müssen, stünde ich jetzt noch dort, mit einem Spinnennetz am Brillengestell und Staub auf den Schultern. Achim Bell hilft mir.

Dann muss der Bahnmitarbeiter aber erst herumtelefonieren, damit uns nicht der Weidenau-Schock trifft. Rollstuhlfahrer müssen ihre Fahrten dorthin nämlich eigentlich Tage im Voraus bei der Bahn anmelden, damit jemand mit dem Aufzugschlüssel bereitsteht. Sonst steht man am Gleis und kann sich den Bahnhof von hinten anschauen. Aber wer will das schon?

Wir haben Glück, kurzfristig ist eine Kollegin verfügbar. Siegens Behindertenbeauftragter Rainer Damerius wird später darauf hinweisen, dass diese Kurzfristigkeit keineswegs die Regel ist. Die Dame muss beide Aufzüge aufschließen, mit mir erst runter, dann rauffahren, dabei die Richtungstasten gedrückt halten. Ich bin dankbar für die Hilfe. Aber durch das umständliche Prozedere fühle ich mich auf den Arm genommen.

Mit dem Bus fahren wir nach Dillnhütten weiter, dann ,ebenfalls mit dem Bus, zurück nach Siegen. Diese beiden Touren sind relativ problemlos, an unseren Bussen gibt es ausklappbare Rampen. Gut, hätte ich mir nun noch in Bus Nummer zwei das ungeplante Umkippen mit dem Rolli gespart, wäre mein Tag ein wenig besser gewesen. Aua, aua, aua! Aber: Immer in der Rolle bleiben und beim Wiederaufrichten die Beine nicht bewegen. Wir sind schließlich inkognito.