Hilchenbach. .

Rank und schlank ist sie geblieben trotz ihrer hundert Jahre. „Karg ist es hier oben“, sagt Diethard Altrogge beim Blick auf die Buche – und taxiert kurz die Festmeter Holz, die ihr Verkauf hätte bringen können. „Das ist nun vorbei“, sagt der Chef des Regionalforstamts.

Er bedauert das keineswegs. Auch dieses knapp 57 Hektar große Gebiet an der Kohlenstraße, unweit der Ederquelle, wird Wildnis.

Wildnis? Das bedeutet, dass dieses Gebiet nicht mehr bewirtschaftet wird und die Natur freien Lauf bekommt – hier wie auf insgesamt etwa acht Prozent des nordrhein-westfälischen Staatswaldgebietes. Die Besiedlung mit Brutvögeln und Höhlenbrütern, sagt Altrogge, „geht sofort hoch“.

In der eher zufällig schon entstandenen Wildnis links der Kohlenstraße wachsen Pilze auf den vermoosten Baumstämmen, die dort seit drei Jahrzehnten liegen. In dem Stamm, der seine Krone verloren hat, hat ein Specht seine Höhle. Dazwischen wächst ein kleiner Buchenwald heran. Auch im letzten Jahr hat es eine Menge Bucheckern gegeben, aus denen neue Bäume entstehen. „Und die Wildschweine haben sich hier trotzdem dick und fett gefressen.“

Betreten ist erwünscht in den kleinen Paradiesen. Hier, so stellt es sich die Landesregierung vor, die mit dem Wildnisprogramm EU-Richtlinien folgt, soll Umweltbildung für Kinder, Jugendliche und Familien an Ort und Stelle erfolgen. In Seminaren oder Exkursionen. Oder im ganz normalen Wochenprogramm der Ganztagsschulen, von denen einige jetzt schon mit dem Forstamt zusammenarbeiten. Schon der Weg dorthin liefert Stoff zum Nachdenken. Denn zur anderen, zur rechten Seite der Kohlenstraße liegt die kahl gefallene Fläche, die einst Fichtenwald war. Bis der Jahrhundertsturm Kyrill, vor fast genau fünf Jahren, seine Schneise genau durch die Kohlenstraße zog.

Der Buchenwald hat es verdient, Urwald zu werden, findet Diethard Altrogge. Zumindest auf einem Bruchteil der Fläche, die er heute überhaupt noch prägt: Vier Prozent des Waldes in NRW sind Buchenwald. 80 Prozent wären es, „wenn wir ihn nicht ausgelöscht hätten“. Buchenwälder sind nur einfach schön, sondern haben die Region geprägt: Sie gaben Ziegen, Schweinen und Pferden Weiden und Nahrung, lieferten Brennholz und die Holzkohle, die aus dem Siegerland überhaupt erst ein Eisen- und Stahl-Land gemacht haben.

Der Forstamtsleiter weiß, dass die neue Wildnis nicht nur überschwänglich begrüßt wird: Um den Ausfall der Holzernte auszugleichen, wird an anderen Stellen mehr eingeschlagen, damit die Sägewerke Arbeit behalten. Dass dennoch weiter Holz nach NRW importiert werden muss, sei natürlich kein Gewinn für die Umwelt, räumt Altrogge ein. Noch nicht einmal die Kohlendioxid-Bilanz: Die ist im Wildwald nämlich, wie so vieles, einfach ausgeglichen, während im bewirtschaften Wald mehr Kohlendioxid aus der Luft gebunden als erzeugt wird.

Und das Geld? Der Verlust an Steuereinnahmen und Erlösen aus dem Verkauf von jährlich 3500 Festmetern Holz sei verkraftbar, findet Altrogge: „Wo sonst, wenn nicht im öffentlichen Wald?“ Darüber hinaus haben aber auch die fürstlichen Besitzer in der Wittgensteiner Nachbarschaft Interesse angemeldet: Auch sie würden Flächen gegen Entschädigung der Wildnis überlassen – geeignet sind mindestens fünf Hektar große Reviere mit mindestens hundert Jahre alten Buchenbeständen.

„Ich finde es spannend, dieser Buche die Chance zu geben, alt zu werden“, sagt Diethard Altrogge beim Gang durch die künftige Wildnis 700 Meter über dem Meeresspiegel, „in so einem Gebiet dürfen auch alte, kranke und hässliche Bäume leben.“ Das zu erkennen, sei auch für junge Menschen wichtig. Beinahe eben eine (Baum-)Schule fürs Leben. Wobei Altrogge die anderen Freunde mit Stamm und Krone nicht aus den Augen verliert: Im Sommer bietet er eine Führung auf dem neuen Tannenpfad hinter Hohenroth an – ein anderer, selten gewordener Bewohner des Waldlandes, der nach Kyrill große Rückkehr feiert.