Kreuztal. Seit Wochen nimmt die Beunruhigung zu, zu Ferienbeginn geht Grundschule in die Offensive: Es gab Vorfälle sexualisierter Gewalt zwischen Kindern.

Die Kinder bringen die Post am letzten Schultag vor den Osterferien mit nach Hause. Nicht nur die Länge des Schreibens, sondern auch die Namen der Unterzeichner machen deutlich: Hier geht es um Gravierendes. Die Eltern aller Jahrgänge werden von Schulleitung, Siegener und Arnsberger Schulaufsichtsbehörde über „Vorfälle sexualisierter Gewalt zwischen Kindern“ informiert: „Bleiben Sie besonnen. Beteiligen Sie sich nicht an Gerüchten oder Spekulationen über mögliche Ereignisse, die an dieser Schule geschehen sein sollen. Halten Sie Ihre Kinder dazu an, dies ebenfalls nicht zu tun.“

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Wie die heile Welt zerbricht

Jonas und Alex* sind Freunde, sie kennen sich von der ersten Klasse an. Die Viertklässler verbringen viel Zeit miteinander, gelegentlich übernachtet Jonas bei Alex. Es gibt Fotos, wie sie zusammen draußen spielen. „Ich dachte, sie hätten eine schöne Zeit miteinander“, erzählt Sigrid Müller*, die Mutter von Jonas. Der 1. Februar, ein Donnerstag, zerstört das Bild. „Da ist unser Sohn zu uns gekommen.“ Alex zwinge ihn, an seinem Penis zu lutschen, berichtet Jonas. Und davon, dass der Freund gewalttätig sei, ihn mit einem Messer bedrohe, ihn in den Keller einsperre. „Schon ganz lange.“

Sigrid Müller und ihr Ehemann setzen von diesem Wochenende an Himmel und Hölle in Bewegung. Sie gehen mit Jonas zum Arzt, suchen die Beratungsstelle an der Siegener Kinderklinik auf, informieren Klassen- und Schulleitung und das Jugendamt. Eine Woche später ist der Vorgang bei der Polizei aktenkundig, die beginnt, Zeugen wegen „schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern“ anzuhören. Die Schulleitung warnt die Eltern der vierten Klassen schriftlich: Es gebe Hinweise, dass Kinder auf dem Heimweg auf ihren Handys „Filme mit sexistischen Inhalten“ anschauten. „Sprechen Sie mit Ihrem Kind, ob in dessen Umfeld solche Vorfälle möglicherweise stattgefunden haben.“

Wie die anderen reagieren

Andere Eltern, die ihren Kindern nach dem 1. Februar nun behutsam nahebringen wollen, was in der Klasse los ist, werden überrascht - sie erzählen nichts Neues. Denn Jonas hat sich schon vor Monaten drei Klassenkameraden anvertraut. „Wir durften nichts sagen“, erzählt eine der Mütter über die Reaktion ihrer Söhne, als die sich ihr ebenfalls anvertrauten. „Jonas ist in den Pausen von ihnen beschützt worden.“ Die Mütter der „eingeweihten“ Kinder tauschen sich aus, fügen ein Mosaik auffälliger Verhaltensweisen zusammen. Sie hätten Alex schon lange nicht gemocht, er sei ein „Blödmann“, sagten sie, „wenn man die Kinder heute fragt“. Ein Video, das Jonas und Alex in einem Whirlpool zeigt, taucht auf. Die häufigen Übernachtungen, zu denen Jonas sich am Ende nur noch drängen lässt, erscheinen nun auch in einem anderen Licht. „Jonas hatte wahnsinnige Angst vor ihm“, weiß Sigrid Müller heute.

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In der Klasse kommt es zum offenen Streit zwischen Jonas‘ Vertrauten und Alex. Alex hat inzwischen einen neuen Freund, den er zu sich nach Hause einlädt, erfährt Sigrid Müller von einer Mutter. Auch im Keller seien die Jungen gewesen, „es ist aber wohl nichts passiert.“

Um den Konflikt in der Schule zu entschärfen, werden die beiden Jungen Mitte Februar getrennt, sie besuchen seitdem unterschiedliche Klassen. In ihrem Brief zu den Osterferien betonen Schulleitung und Schulaufsicht, dass sie keinen Anlass zum Eingreifen gesehen haben. Für Vorfälle, „die angeblich innerhalb der Schule geschehen sein sollen“, gebe es keine Bestätigung. Und es seien auch keine Anhaltspunkte gefunden worden, „die darauf hinweisen, dass die Lehrkräfte Missstände übersehen hätten.“ Dagegen steht Jonas‘ kaputte Zahnspange, die zu Bruch gegangen ist, als Alex ihn vom Stuhl geschubst hat - erzählen andere Kinder. Und Berichte von Übergriffen in der Jugendherberge während der Klassenfahrt. „Jonas hatte Angst, aufs Schulklo zu gehen“, berichtet die Mutter. Weil er fürchtete, dass Alex ihm nachstellt.

In den folgenden Wochen macht das, was sich ursprünglich zwischen den beiden Jungen ereignet hat, die Runde. Kinder erzählen, Eltern tauschen sich aus, einige wenden sich nun auch an die Bezirksregierung: Das, was die Schule tut, genügt ihnen nicht: Da werde auf den „Täter“ mehr Rücksicht genommen als auf das Opfer, finden sie, und fordern, dass Alex die Schule wechselt. Einige befassen sich auch mit dem Umfeld von Alex, wenden sich Vereine, in denen Alex Freizeit verbringt.

Warum wir berichten

Privatsache? Längst ist das, was vor einigen Wochen aus Erzählungen von Kindern ans Tageslicht gebracht wurde, Dorfgespräch in einem Kreuztaler Stadtteil. Nur die beteiligten Jungen selbst wissen, was wirklich passiert ist – und ihren Eltern macht das, was sie davon mitbekommen, größte Sorge. Über diesen engen Kreis hinaus aber verselbstständigen sich die wenigen Fakten, veranlassen auch besorgte und erschütterte Unbeteiligte zu Reaktionen, die nicht immer angemessen sind.

Der Aufruf zu Mäßigung, der aus der Schule kommt, mag unpassend erscheinen – als ob es da das größte Interesse wäre, dieses 4. Schuljahr möglichst geräuschlos Geschichte werden zu lassen. Aber vielleicht ist es doch gut, zur Kenntnis zu nehmen, dass Fachleute sich hinter den Kulissen intensiv um die Betroffenen kümmern, ohne dafür Öffentlichkeit suchen zu dürfen. Wir berichten über diesen schwierigen Konflikt auch, weil er überall passieren kann. Deshalb ist es ausnahmsweise überhaupt nicht wichtig, Namen und Orte zu nennen.

Wie Fachleute damit umgehen

Die Schulleitung beruft Anfang März kurzfristig Elternabende für die Klassen von Jonas und Alex ein, bei denen außer der Schulaufsicht auch die Schulberatungsstelle des Kreises und die Polizei vertreten sind. „Unser aller Ziel sollte es sein, den Schulbetrieb möglichst störungsfrei zu erhalten und Ihren Kindern die Schule als lebenswerten Ort zu erhalten“, heißt es schließlich in dem Brief, mit dem die Kinder in die Osterferien geschickt werden.

„Wir kennen nicht den ganzen Hergang“, sagt Michael Utsch als zuständiger Schulaufsichtsbeamter, „die Schule hat das sehr ernst genommen und mit beiden Familien gesprochen“. Wichtig sei, „dass beide Kinder geschützt werden und der Schulbetrieb für alle störungsfrei weiterlaufen kann“. Weil es keine Belege für Vorfälle gebe, die sich innerhalb der Schule ereignet hätten, könne die Schule selbst keine Ordnungsmaßnahmen ergreifen, stellt der Schulrat fest. Mit der Trennung der beteiligten Kinder, den Informationen an die Eltern und dem Einbezug außerschulischer Expertise habe die Schule richtig reagiert. Das Jugendamt bestätigt, mit beiden betroffenen Familien in Kontakt zu sein. Die regionale Schulberatungsstelle des Kreises Siegen-Wittgenstein, die von der Schule hinzugezogen wurde, äußert sich nicht zu den Vorgängen.

Die Zurückhaltung der Fachleute hat ihren Grund: Sie kennen Situationen, in denen sich in Erzählungen von Kindern Wahrheiten und Erwartungen vermischen, und das um so mehr, je stärker Erwachsene eingreifen. Was sie sehen: Kinder auf dem Schulhof, die nicht mehr Freunde sind, sondern sich aus dem Weg gehen. Was sie fragen: Waren es nicht doch nur „Spiele“, von denen sie sich distanzieren, weil sie „verboten“ sind? Gibt es wirklich „Täter“ und „Opfer“? Und sie gehen Details nach: Wer hat was auf dem Handy, ist der „Keller“ eher Verlies oder doch nur ein Spielzimmer?

Beratung angeboten hat das Jugendamt. „Beide Eltern sind sehr um Schutz und Aufklärung bemüht“, sagt Jugendamtsleiterin Anissa Mahmood. Eingebunden worden sei die ärztliche Beratungsstelle an der DRK-Kinderklinik, „um Eltern und Kindern zu helfen, das aufzuarbeiten“. Wichtig sei der Schutz beider Kinder. „Es geht nicht um Bestrafung, sondern um Aufklärung.“

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Wie es weitergeht

Das Bestreben, den aufgebrachten Teil der Schulgemeinde zu beruhigen, trifft auf die Wirklichkeit in den beteiligten Familien. Denen geht es tatsächlich schlecht. Jonas beginnt inzwischen eine Therapie, ist offenkundig froh über einen professionellen Gesprächspartner, der ihm zuhört. Dass auch Alex Unterstützung braucht, steht außer Frage, erst recht nach der Wucht der Vorwürfe, denen er nun auch öffentlich ausgesetzt ist. „Wir wollen ja helfen“, sagt eine der Mütter von Jonas‘ Freunden, „was hat man dem Kind angetan?“ Alex‘ Familie zeigt sich nach dem 1. Februar überrascht. Sie bittet darum, die Vorfälle „unter beiden Familien zu klären“. Die öffentliche Auseinandersetzung schade den Kindern: „Wir haben alle schon Fehler gemacht“, heißt es in einer Whatsapp-Nachricht. Mittlerweile gehen die Familien gerichtlich gegeneinander vor, Rufschädigung werfen Jonas Eltern der Familie von Alex vor.

Jonas leidet. „Mein Sohn hat jeden Tag Angst, in die Schule zu gehen. Er schläft nicht mehr“, berichtet Sigrid Müller. Dabei habe er gerade in den letzten Monaten besonderen Ehrgeiz an den Tag gelegt: Die Empfehlung fürs Gymnasium wollte er auch deshalb unbedingt schaffen, damit er in der fünften Klasse nicht mehr zusammen mit Alex in dieselbe Schule gehen muss. Gesamtschule und Gymnasium in Kreuztal sind allerdings Nachbarn im Schulzentrum - nach den Sommerferien wird Jonas also sehr weit fahren.

* Jonas, Alex und Sigrid Müller heißen in Wirklichkeit anders. Um die betroffenen Kinder zu schützen, nennen wir auch den Namen der Schule nicht. Die Eltern von Alex haben auf unsere Anfrage bis Montag nicht reagiert.

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