Geisweid. Vor 2025 wird nicht alles wieder „normal“ sein bei der Stadt Siegen. Sie rechnet mit einem Millionenbetrag, der sie die Cyberattacke kosten wird.

Ralf Hensel kann wieder drucken. Plakate für Siegerlandhalle und Volkshochschule. Katasterauszüge für Bauwillige. Bebauungspläne im Riesenformat, die der Bürgermeister unterschreibt, damit sie von der nächsten Maschine gefaltet und von der übernächsten laminiert werden, bevor sie als Urkunde im Aktenschrank für alle Zeiten aufbewahrt werden können. In der Reprostelle des Geisweider Rathauses treffen sich analog und digital. Weil der Drucker eine Festplatte hat und im Netzwerk hängt, lief auch hier für zwei Monate nichts. Auch nicht am digitalen Stadtplan. „Die neuen Straßennamen sind wahrscheinlich schon wieder raus“, fürchtet Ralf Hensel. Gut, dass sich die jeder gemerkt hat. Sonst hätte die Hindenburgstraße wieder eine Chance.

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Wir sind weiter, als wir für möglich gehalten hätten.
Steffen Mues, Bürgermeister

Worüber man sich freut

Gut hundert Tage nach der Cyber-Attacke auf die Südwestfalen IT (SIT) – genau genommen die Strecke vom 30. Oktober bis zum 6. Februar – ist die Stadt aus dem Gröbsten raus. „Wir sind weiter, als wir für möglich gehalten hätten“, sagt Bürgermeister Steffen Mues. Die Bürgerbüros funktionieren wieder, die Ausländerbehörde kann arbeiten. „Die Unannehmlichkeiten und Ärgernisse sind für die Bürgerinnen und Bürger gar nicht mehr so stark feststellbar.“ Das entspannt ein wenig – obwohl sich die Unmutsbekundungen von Anfang an in Grenzen hielten: „Wir haben viel Verständnis bekommen.“

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Man denkt zurück an die Kraftakte. An die „Chaosphase“, wie Stadtbaurat Henrik Schumann die ersten Wochen im November bezeichnet, als mit einem Schlag 1300 Bildschirmarbeitsplätze vom Netz genommen werden mussten, aber schon am zweiten Tag wieder eine Not-Homepage online ging, mit LTE-Routern, Notebooks und Softphones, also in die Rechner integrierten Telefone, ein eigenes Stadt-Netz aufgebaut wurde, aus „. ... @siegen.de“ „... @siegen-stadt.de“ wurde. „Nach 14 Tagen hatten wir wieder 200 Rechner am Start“, erinnert Henrik Schumann, der seit 100 Tagen vor allem als Leiter des Krisenstabs gefragt ist, im Behördendeutsch „Stab für außergewöhnliche Ereignisse“, abgekürzt „SAE“.

Wir nähern uns immer mehr normalen Arbeitsweisen in der Verwaltung.
Thomas Jung, Feuerwehrchef

Wie die Krise normal wird

Übers Wochenende waren alle Rechner eingesammelt und in den Ratssaal in der Oberstadt gebracht worden. Um die 900 Computer sind hier bereits wieder in ihren Werkszustand zurückversetzt worden. „Die Waschstraße wird in Kürze wieder aufgelöst“, kündigt der Bürgermeister an. „Aber ich warne davor, in Euphorie zu verfallen.“ Bis alles wieder so funktioniert wie vor dem 30. Oktober, wird es wohl 2025 werden. Normal ist nun die Krise. Feuerwehrchef Thomas Jung, der den Krisenstab organisiert, hat die täglichen Treffen der Rathausspitzen in der Feuerwache in wöchentliche Runden im Geisweider Rathaus überführt. „Wir nähern uns immer mehr normalen Arbeitsweisen in der Verwaltung.“ Rein fachlich ist Thomas Jung zufrieden: Der Stab, der vorher zum Glück meist nur simulieren konnte, abgesehen einmal von einem Orkan, der keiner wurde, hat bewiesen, dass er funktioniert. „Wir können jederzeit reagieren.“

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Auf die Kraftakte folgen die Mühen der Ebene. Ein Fachverfahren nach dem anderen wird von der SIT wieder ans Laufen gebracht. Am schnellsten die, die von vielen Kommunen verwendet werde. Wobei Siegen als größter SIT-Kunde immer ein bisschen länger warten muss. Was an der Zahl der Nutzer und der Menge der Daten liegt, die immer größer ist als in kleinen Nachbarkommunen. In vielen Einzelfällen wird dann überlegt, ob man noch warten will oder sich mit einer Softwarefirma kurzschließt und eine eigene Lösung installiert. An einen Komplettausstieg aus der SIT sei aber nicht zu denken, sagt Bürgermeister Steffen Mues. „Dafür sind wir zu klein.“ Das würde teuer, zudem würde die Stadt kaum das nötige Personal gewinnen können. Der Trend geht ohnehin eher zur Zentralisierung: „Je größer der Verbund, desto mehr Mittel kann ich in die Entwicklung der Verfahren und in die Sicherheit investieren.“

20 Millionen Euro Defizit

Es gibt einen Zeitplan: Anfang April wird Kämmerer Wolfgang Cavelius den Stadtverordneten einen Entwurf für den Haushalt 2024 zuleiten. Nach den Beratungen der Fachausschüsse wird der Etat dann im Mai verabschiedet werden können – so spät wie noch nie. Aktuell stehe unter dem Strich ein Defizit von knapp 20 Millionen Euro, sagt Cavelius. Das werde dazu führen, dass die Stadt wieder mit den Beschränkungen der Haushaltssicherung leben muss.

Bürgermeister Steffen Mues hofft auf eine geplante Änderung des Haushaltsrechts durch den Landtag. Danach könnte der Ausgleich des Verlusts von 2024 auf 2026 „vorgetragen“ werden. Und mit einem Jahr Vorlauf der Überschuss des Jahres 2023 auf 2025. Beide Beträge, Überschuss 2023 und Defizit 2024, sind in etwa gleich hoch.

Wie die Umweltspur fast ausgebremst wird

„Im Moment sind wir beim 6. Dezember.“ Kämmerer Wolfgang Cavelius erzählt, wie seine Mannschaft Buchung für Buchung nachholt, die seit dem 30. Oktober nur in Excel-Dateien notiert werden konnten. Um die 10.000 Buchungen pro Monate müssen nun ins wieder laufende Haushaltssystem eingepflegt werden. „Ein Riesenaufwand.“ Immerhin sei es gelungen, Grund- und Gewerbesteuern reinzuholen, „händisch“, was aber nicht bedeutet, dass die Mitarbeitenden an den Haustüren geklingelt haben. „Dadurch sind einige Millionen in die Kasse geflossen.“ Und die Stadt war flüssig und konnte Rechnungen bezahlen. Manche, fürchtet der Kämmerer allerdings, sogar doppelt. Weil die wiederkehrende Zahlung eben doch noch vor der Attacke ausgelöst wurde.

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Die Leute von Straße und Verkehr haben Pech gehabt. Um die Aufträge für die Umweltspur vergeben zu können, wurde ein Leistungsverzeichnis online gestellt – solche Verfahren laufen digital: Im Idealfall lesen interessierte Firmen die Anforderung, unterbreiten ein Angebot, am Ende erteilt die Stadt dem günstigsten Bieter den Zuschlag. Das Leistungsverzeichnis war weg nach der Cyber-Attacke. „Wir konnten bei Null anfangen“, berichtet Stadtbaurat Henrik Schumann: wie viel Meter weiße Markierungsstreifen, wie viele Schildertafeln, wie viele Verkehrszeichen? „Wir haben bei der Polizei einen Satz Pläne auftreiben können.“ Die hatte die Stadt nämlich vorher dort vorlegen müssen. Jetzt läuft die Ausschreibung mit Verspätung. So spät, fürchtet der Stadtbaurat, dass die Auftragsbücher der infrage kommenden Firmen schon gut gefüllt sind und die Angebote entsprechend teuer.

Was das alles kostet

Das ist dann so ein Teil des Schadens, der nur schwer messbar ist. Höhere Kosten, vor allem viel Mehrarbeit, die die Bediensteten der Stadt leisten müssen. „Ein großer Teil wird sich gar nicht beziffern lassen“, sagt Henrik Schumann. Messbar sind immerhin die Ausgaben für Anschaffungen und ausbleibende Einnahmen. Alles in allem, wagt Bürgermeister Steffen Mues eine Prognose, „wird sich das in einem siebenstelligen Bereich bewegen, hoffentlich in einem niedrigen.“ Also lieber eine Million als neun.

WinFried ist übrigens noch nicht wieder da. Das ist die Software der Friedhofsverwaltung, die der Stadt zu Gebühreneinnahmen verhelfen soll. Mit der aber auch jeder Friedhof, jede Grabstelle angeklickt werden kann, mit der Grabstätten vergeben und Kapazitäten geplant werden. Die Fachanwendung für die letzte Ruhe hat keine Eile. Die Reprostelle in der Vermessungs- und Geoinformationsabteilung von Michael Krämer ist wichtiger. Ralf Hensel scannt, was das Zeug hält, um aus Papier wieder Dateien zu machen. Gut, dass sie im Rathaus mit dem Ausdrucken nie aufgehört haben.

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