Siegen. Nach der Hacker-Attacke auf die Südwestfalen-IT in Siegen bleiben die infizierten Computersysteme weiterhin offline. Spezialisten sind vor Ort.
Aufgrund des Cyberangriffs auf den kommunalen IT-Dienstleister Südwestfalen-IT (SIT) sind die Kreisverwaltung Siegen-Wittgenstein ebenso wie die kommunalen Verwaltung weiterhin weitgehend außer Gefecht gesetzt. Die SIT hat in der Nacht zu Montag, 30. Oktober, alle Systeme zunächst heruntergefahren, um den Schaden zu begrenzen und überhaupt das Ausmaß des Angriffs zu ermitteln. Wie die SIT am Dienstag mitteilt, bleiben die Telefon- und Computersysteme weiterhin offline, die kommunalen Verwaltungen sind entsprechend nur sehr begrenzt erreichbar.
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Insgesamt betreut die SIT 73 Kunden, darunter alle Kommunen in Siegen-Wittgenstein – alle Rathäuser sind offline, die Dienstleistungen für die Bevölkerung stark eingeschränkt. Stand Dienstagmorgen analysieren interne und externe Spezialisten die Systeme, um die „Infektionsketten“ und Verbreitung der Schadsoftware auf Servern und Rechnern nachzuvollziehen. Dafür ist es erforderlich, die Systeme weiterhin vom Internet und den Verwaltungsnetzen zu trennen“, heißt es in der Mitteilung. Zusammen mit den Behörden und Fachfirmen treibe man die Analysen zur schnellstmöglichen Wiederherstellung des IT-Betriebs voran.
Die Verwaltungen sind nur in äußerst begrenztem Maße arbeitsfähig und derzeit damit beschäftigt, nach analogen Möglichkeiten zu suchen, um die wichtigsten Dinge anbieten zu können – die Beurkundung von Sterbefällen beispielsweise. Rathäuser sind zwar nicht generell geschlossen, Termine können aber bis auf wenige Ausnahmen nicht stattfinden. Die Kommunen haben die Pforten und Info-Stände besetzt und informieren die Menschen vor Ort.
Cyber-Angriff auf SIT in Siegen: „Erpressungstrojaner“ im System entdeckt
Der Cyberangriff ist demnach in der Nacht zu Montag kurz nach 1 Uhr erfolgt, festgestellt wurde er in der Kreisleitstelle, wo verschlüsselte Dateien entdeckt wurden. Die Rechenzentren und IT-Systeme wurden vorsorglich heruntergefahren, um weiteren Schaden in der IT-Infrastruktur zu verhindern, teilte die SIT mit, man stehe in Kontakt mit Landes- und Bundeskriminalamt (LKA und BKA), dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) sowie externen Sicherheitsdienstleistern. Das zuständige Polizeipräsidium Dortmund hat die Ermittlungen aufgenommen, beteiligt ist auch die bei der Staatsanwaltschaft Köln angesiedelte Zentral- und Ansprechstelle Cybercrime (ZAC NRW).
Die Angreifer schafften es demnach, Ransomware, einen sogenannten „Erpressungstrojaner“, in die Systeme der SIT zu schleusen. In der Nacht zu Montag seien verschlüsselte Daten auf den Servern entdeckt worden, die auf einen unautorisierten Zugriff von außerhalb hingedeutet hätten. Techniker hätten umgehend mit der Analyse und ersten Schritten der Schadensbegrenzung begonnen, damit sich die Schadsoftware nicht weiter innerhalb des Netzwerks ausbreiten kann – daher wurden die Verbindungen des Rechenzentrums zu und von allen Verbandskommunen gekappt. Da nicht feststeht, ob das Virus auch schon einzelne Computer einzelner Beschäftigter infiziert hat, dürfen diese derzeit auch nicht einfach so eingeschaltet werden – es besteht die Gefahr, dass sich der „Erpressungstrojaner“ dadurch auf weitere verbundene Geräte ausbreitet.
Krisenstab des Kreises Siegen-Wittgenstein tagt
Beim Kreis Siegen-Wittgenstein tagte am Morgen der Krisenstab, wie Pressesprecher Torsten Manges im Gespräch mit der Redaktion mitteilte, genauso in Siegen der „Stab für Außergewöhnliche Ereignisse“ (SAE). Am Nachmittag schalteten sich Landrat und Bürgermeister zusammen, um zu überlegen, was zu tun sei. Als Kunden der SIT haben Kreis und Kommunen aber wenig andere Möglichkeiten, als dem Dienstleister, den Behörden und Fachunternehmen die technische Bewältigung der Attacke zu überlassen.
Einrichtungen der kommunalen Familie wie das Klinikum Siegen, der Siegerlandflughafen oder auch Schulen, Museen und Kulturinstitute seien von dem Angriff nicht betroffen oder hätten zumindest regulär geöffnet. Die Kreisleitstelle ist für Notrufe erreichbar. Die Notruf-App „Nora“ ist allerdings ausgefallen, während die WarnApp „Nina“ funktioniert dagegen. Menschen, die Sozialhilfe beziehen, Grundsicherung oder Hilfen zum Lebensunterhalt etwa, müssen sich keine Sorgen machen, hieß es am Spätnachmittag vom Kreis: Die Zahlungen seien bereits vor dem Wochenende angewiesen worden, „die Leute bekommen alle ihr Geld“, so Pressesprecher Manges.
Da auch Homepages nicht verfügbar sind, haben Kreis und Kommunen angekündigt, über ihre Social-Media-Kanäle über das weitere Vorgehen zu informieren.
Die Notfall-Rufnummern für Netphen, Hilchenbach, Freudenberg, Wilnsdorf, Burbach
Die Kreisverwaltung ist ab Dienstag von 8 bis 16 Uhr in äußerst dringenden Angelegenheiten über eine Nothotline zu erreichen: 0271/31391915. Es handelt sich um einen Anschluss mit lediglich zwei Leitungen, teilt der Kreis mit. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnten allgemeine Auskünfte geben. Ein Durchstellen in einzelne Ämter oder Informationen zu laufenden Verfahren sind aber nicht möglich, weil die IT weiterhin komplett ausgefallen ist.
Die Stadtverwaltung Netphen hat einen Notfall-Infostand am Eingang des Bürgerbüros eingerichtet.
Auch am Rathaus Hilchenbach gibt es einen Notfallschalter. In Notfällen können Bürgerinnen und Bürger 0176/11896591 anrufen, die Wasserversorgung unter 02733/2869913 und die ordnungsbehördliche Rufbereitschaft unter 0175/6210282.
Die Stadt Freudenberg hat Notfall-Info-Nummern geschaltet. Bürger-Info: 0151/19098795und 0170/8381904, Notfallnummer Wasserversorgung 0171/2451767, Notfallnummer Ordnungsdienst 0171/8867847.
In Burbach betroffen sind auch das Bürgerbüro, das Familienbüro, die Alte Vogtei und die Bücherei, die ebenfalls geschlossen bleiben. Bei Sterbefällen und der Notwendigkeit deren Beurkundung ist über folgende Mobilnummer ein Termin zu vereinbaren: 0160/90 65 30 03.
Wilnsdorf hat mehrere Notfall-Telefonnummern veröffentlicht: Die Gemeindewerke bei Problemen mit der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung: 0171/836 51 61. Für die Beurkundung von Sterbefällen: 0151/70 25 33 57. Für die Anmeldung von Beerdigungen: 0151/14 63 03 32. Alle Anliegen, die über diese Notfälle hinausgehen, bittet die Gemeinde zu verschieben. Ausleihen in der Bibliothek sind nicht möglich, Medien können aber Montag und Dienstag zu den regulären Zeiten zurückgegeben werden.
Eheschließungen finden in Siegen statt – Rathäuser sind geschlossen
Die Stadt Siegen stellt die Verwaltung so gut es eben geht auf „analoge Technik“ um, zumindest in den dringenden Fällen und dort, wo es machbar ist. Also klassisches Verwaltungshandwerk, mit Papierakten und -formularen, Stempeln und Unterschrift. Die Rathäuser sind geschlossen, Termine können in den allermeisten Fällen einfach nicht stattfinden. In der Oberstadt hat das Team der Pforte ein Absperrband vor dem Eingang angebracht, ein Zettel weist auf den Cyberangriff hin. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nehmen die Menschen in Empfang, erklären ihnen, was passiert ist, so weit sie es halt selber wissen.
Die Bürgerinnen und Bürger bleiben ruhig und verständnisvoll, manchmal flackert Sorge in Stimme und Augen auf: „Aber morgen kann ich kommen?“ Sie wissen es schlicht nicht, „tut uns leid“. Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Eine junge Frau braucht einen Stempel im Reisepass – damit kann die Ausländerbehörde dienen, auch ohne funktionierende Computer. Erfahrung hilft, der Mitarbeiter kennt das Rathaus nach Jahrzehnten in- und auswendig. „Sowas hab‘ ich in 33 Jahren aber auch noch nicht gehabt“, sagt er. Ein junger Mann hört nur „Cyberangriff“: „Alles klar, dann weiß ich, was los ist“, sagt er. Er wolle in ein paar Tagen wiederkommen.
Eine Frau mit osteuropäischem Akzent kann kaum nachvollziehen, dass wirklich gar nichts geht an diesem Montagvormittag. „In Deutschland funktioniert doch immer alles?!“, ruft sie. „Tja“, die Rathaus-Mitarbeiterin zuckt die Achseln. Ohne Computer nicht, nicht im Jahr 2023. Sie müsse bitte einen neuen Termin machen. Da merke man doch, dass „unsere Arbeit irgendwie wichtig ist“, sagt eine Kollegin, die sich dazugesellt hat, um das Team an der Pforte zu unterstützen.
Rathaus Kreuztal richtet Bürgertelefon ein
Das Rathaus in Kreuztal ist offen, aber „personell ausgedünnt“, berichtet Bürgermeister Walter Kiß. „Wir können nur analoge Dienstleistungen anbieten.“ Und das sind nicht viele. „Ich kann noch nicht einmal meinen Terminkalender sehen.“ Ins Schlingern kommen auch Erarbeitung und Versand von Sitzungsunterlagen der kommunalen Gremien – die sind an Einladungsfristen gebunden. Walter Kiß ist pessimistisch: „Wir gehen nicht davon aus, dass wir heute noch wieder betriebsbereit werden.“ Die Stadt Kreuztal kommuniziert weiter über ihre Website www.kreuztal.de, die nicht über die SIT betrieben wird.
Alle Ämter im Rathaus und auch die Infotheke im Foyer sind grundsätzlich besetzt, sodass für dringende Fragen jemand ansprechbar ist. Aufgrund der technischen Probleme können allerdings keine Dienste angeboten werden. Und auch die städtischen Kindertageseinrichtungen sind derzeit über E-Mail nicht erreichbar.
Die Stadtbibliothek kann wie gewohnt besucht werden - Ausleihen sind am Schalter möglich. Da die Selbstausleihstationen nicht funktionieren, kann es zu Wartezeiten kommen. Das Team der Stadtbibliothek ist leider ebenfalls nicht über Telefon oder E-Mail erreichbar. Es wird darum gebeten, über die Sozialen Medien Instagram und Facebook Kontakt aufzunehmen. Nach aktuellen Informationen ist davon auszugehen, dass die Störung auch in den nachfolgenden Tagen noch anhalten wird.
Nach der Cyberattacke ist die Kreuztaler Stadtverwaltung auch weiterhin nicht wie üblich zu erreichen. In dringenden Fällen stehen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unter den beiden folgenden Notfallnummern zur Verfügung: 0151/52918952, 0151 /52918847, Friedhofsangelegenheiten / Bestattungen: 0160 /72 80 205, Ordnung und Sicherheit / Standesamt 0160/72 68 944, Wasserwerk 0171/7444 534 Das Klärwerk ist telefonisch wie üblich zu erreichen. Das Kulturamt ist per E-Mail erreichbar unter info@kreuztal-kultur.de
Hilchenbachs Bürgermeister Kyrillos Kaioglidis kommt gerade aus aus dem städtischen Stab für außergewöhnliche Ereignisse. „Wir sind gut vorbereitet.“ Die Auszahlung von Sozialleistungen, die zum Monatswechsel anstehen, werden allerdings ein Problem – wer sich seinen Scheck im Rathaus abholt, bekommt ein Problem. „Im Notfall“, so der Bürgermeister, wird die Stadt Bargeld bereit halten, „aber nur für einen kleinen Abschlag.“ Nicht betroffen sind regelmäßige Auszahlungen, zum Beiispiel im Bereich der Jugendhilfe. Ungeklärt ist, ob außer den jetzt anstehenden Hochzeiten weitere Eheschließungen beim Standesamt möglich sind. Denn dazu braucht es Urkunden, die von den Beteiligten unterschrieben werden müssen. Die sind nur noch für die jetzt bevorstehenden Termine vorhanden, „Wir lassen die ein bis zwei Tage vorher ausdrucken.“ Kyrillos Kaioglidis erinnert daran, dass die Industrie- und Handelskammer (IHK) Monate brauchte, um die Folgen eines Cyber-Angriffs zu bewältigen. „An so etwas möchte ich gar nicht denken.“
Freudenberg: Rathaus bleibt Anlaufstelle für Bürgerinnen und Bürger
Das Freudenberger Rathaus ist geöffnet, „wir sind immer noch Anlaufstelle für die Bürgerinnen und Bürger“, sagt Bürgermeisterin Nicole Reschke – auch wenn derzeit keine Dienstleistungen erbracht werden können. Einzelne Menschen kämen persönlich vorbei, würden aber sehr verständnisvoll reagieren, wenn ihnen die Situation erklärt wird. Für kommunalen Ordnungsdienst und Wasserversorgung hat die Verwaltung über die Sozialen Medien Notfall-Handynummern kommuniziert.
Ihren Krisenstab hat die Stadt Freudenberg morgens um 7 Uhr einberufen. Bereits zuvor waren, wie Nicole Reschke erklärt, Einrichtungen wie die Schulen oder der Bauhof telefonisch informiert worden, dass auf keinen Fall Rechner oder Laptops hochgefahren werden dürften. Eine solche Info ging auch an alle Kolleginnen und Kollegen im Homeoffice raus.
Angesichts der Situation wurde den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Möglichkeit eröffnet, spontan für den Montag Urlaub zu nehmen oder Überstunden abzubauen – wobei gewährleistet blieb, dass jedes Amt besetzt ist, wie die Bürgermeisterin erläutert. Nervosität habe sich nicht breitgemacht, alle im Team gingen professionell mit der Lage um. „Es hilft ja auch nichts, hektisch zu werden“, betont Nicole Reschke.
Netphen: Bürgermeister hat keine Termine mehr
Bei Wasserversorgung und Abwasserentsorgung gibt es keine Einschränkungen, die Schulen haben geöffnet, so die Stadtverwaltung. Netphen ist im grünen Bereich, was Hochzeiten und Sozialleistungen angeht. „Unsere Standesbeamtin hat eine Lösung für die Urkunden gefunden“, berichtet Stadt-Sprecherin Lina Marie Reuter. Und das Geld hat die Sozialverwaltung noch Ende voriger Woche angewiesen. „Das größere Problem ist das Passwesen. Da läuft gar nichts.“ Im Netphener Rathaus sind die Fachbereiche nur mit kleinen Abordnungen vertreten, außerdem tagt ein Krisenstab. „Wir rechnen mit mehreren Tagen“, sagt Bürgermeister Paul Wagener.
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Die Kommunikation mit den Ratsmitgliedern wird über eine Mailadresse aufrecht erhalten, die die Stadt sonst für den Austausch mit den Schulen verwendet. Wagener selbst war am Montagmorgen unterwegs zur Gesellschafterversammlung der Kreiswohnungsbau- und -siedlungsgesellschaft in Siegen. In Dreis-Tiefenbach erreichte den Bürgermeister die Absage, er konnte wieder umkehren. „Ab Dienstag habe ich keine Termine mehr“ – auf Geburtstagsglückwünsche des Bürgermeisters müssen betagte Netphenerinnen und Netphener zunächst verzichten.