Siegen. Youtuber Tobias Colin („Tobico Adventures“) erforscht verlassene Orte, über und unter der Erde – „Lost Places“ gibt es auch in Siegen jede Menge.
Jahrtausendelang haben die Menschen das Siegerland durchlöchert. Die Kelten trieben die ersten Bergwerks-Stollen in den Untergrund, im 20. Jahrhundert endete die Ära des Erzbergbaus. Die Höhlen und Gänge unter der Erde blieben. Im Zweiten Weltkrieg wurden viele zu Bunkern umgebaut: Als Schutzbauten für die Bevölkerung oder auch, um Raubkunst der Nationalsozialisten zu verstecken. Auch oberirdische Beton-Ungetüme prägen das Siegener Stadtbild bis heute. Was ebenfalls blieb: Die Faszination für diese verborgene Welt, oft unter der Oberfläche; für düstere Gänge, Höhlen und Kavernen, durch die immer noch der Hauch der Geschichte weht. Eine Erkundungstour unter der Erde.
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Tobias Colin ist „Urbexer“. Das steht für „Urban Exploration“, die Erkundung solch verlassener Orte („Lost Places“). Diese Welt ist eine Schattenwelt, nicht nur weil es dunkel ist unter der Erde, sondern weil die meisten Stollen und Bunker für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Das hat meistens gute Gründe; Sicherheit vor allem. Und es gibt in der Lost-Place-Szene einen strengen Kodex: Bei aller Neugier, vergessene Bauwerke zu erkunden: Nichts darf mitgebracht, nichts weggenommen, nichts zerstört werden. Deswegen achten die Urbexer sehr darauf, dass Einstiege und Koordinaten nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Viele Menschen richten hier viel Schaden an.
Ein unterirdischer Schutzbunker in Siegen: Erkundung eines Lost Place
Abend, Dunkelheit, irgendwo in Siegen. Ein Auto fährt vorbei, noch eins, dann bleibt alles ruhig. Tobias zwängt sich schnell durch den schmalen Einstieg, eine Straßenlaterne wirft noch etwas Licht in den Vorraum, dahinter eine Tür. Leise zuziehen, dann knipst er seine leistungsstarke Taschenlampe an. Ein Schutzraum, eindeutig, „Abort“ steht neben einem Pfeil, an der Wand vergammelnde Sitzbänke, auf dem Boden verrottende Kisten. Es ist warm hier unter der Erde, wärmer jedenfalls als draußen. Der Tunnel führt in den Berg hinein, schnell zweigen links und rechts Gänge ab. Wasser tropft von der Decke, die Stimme hallt.
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Er aktiviert sein CO2-Messgerät. Seit er in einem Atomschutzbunker einmal fast erstickt ist, hat Tobias den etwa funkgerätgroßen Apparat immer dabei, wenn er unter die Erde geht. Sauerstoffmangel durch Grubengas gibt es nicht nur in ehemaligen Bergwerken: Wenn Holz verfault, wird das darin gebundene CO2 wieder freigesetzt, erklärt er. Auch in Schutzbunkern. Die Wände bestehen aus Ziegeln, ab und zu verputzt, es gibt Toiletten, Technikräume. In einem Raum stehen unverkennbar mehrere Öfen, vom Rost zerfressen, in der Ecke, unter einem Schacht nach oben, liegen noch Kohlen. Die Ziegel-Einhausung des Gangs endet vor dem nackten Fels, von rostroten Schlieren durchzogen, darin funkeln kleine Partikel im Taschenlampenlicht. Eisenerz?
Manche unterirdischen Anlagen sind riesig – Lost Places sind nicht ungefährlich
Weiter geht es durch das Netzwerk aus Tunneln und Gängen, die Orientierung ist schnell weg, die eigenen Fußspuren helfen. Oder der kalte Luftzug, der zusammen mit den Geräuschen der Straße von den Eingängen hereinweht. Es geht den einstigen Haupteingang hoch, Richtung Wohngebiet oben auf dem Berg, ein breites Portal, zugemauert. Hier strömten damals die Menschen in die Schutzräume, vorbei an Befehlsstellen, Flucht- und Abluftschächten. Manche Anlagen sind riesig, sagt Tobias Colin – bei solchen Erkundungen tun sich Urbexer oft zusammen. Niemand ist gern allein im Dunkeln, tief im Berg.
Nächster Bunker, ganz früher wohl auch mal ein Bergwerk, umgebaut und genutzt von einer Siegerländer Brauerei, dann geschlossen und verschlossen. Knochentrocken. Nur an einer Stelle tropft es von der Ziegeldecke, darunter bilden sich bizarre Stalagmiten auf dem gefliesten Boden. Gute Bedingungen für mehrbeinige Lebewesen, die vor allem dort gedeihen, wo sie keiner sieht. Hölzerne Flaschenrahmen und Flaschen mit Bügelverschluss, die seit Jahrzehnten nicht mehr erhältlich sind, erinnern in wildem Gerümpel an die einstige Nutzung, ein Kühlschrank rostet mitten im Gewölbekeller vor sich hin. „Wenn man hier eine Kneipe aufmachen würde...“, sinniert Tobias und inspiziert eine tote Maus auf der einstigen Damentoilette. Ein vergilbter Zeitungsfetzen berichtet vom lettischen Widerstand gegen die Sowjets. Mindestens 30 Jahre her.
Wer möchte, begleitet Tobico Adventures auf Youtube in Lost Places
Tobias Colin ist inzwischen Youtuber: Er nimmt sein Publikum mit auf seine Erkundungen. Wann immer er Zeit und Lust hat, zieht er los, um sich das anzuschauen, was Menschen vor langer Zeit errichteten, buddelten, konstruierten. Meist mit Freunden oder Freundin. Er war Pionier bei der Bundeswehr, daher das Interesse fürs Militärische, für Geschichte. „Oft stehe ich ganz still und lasse einfach nur die Geräusche auf mich wirken“, sagt er. Er stellt sich dann vor, wie es war damals, in dem riesigen Reichsbahn-Bunker zum Beispiel: Wie Menschen Schutz suchten vor den Bombenangriffen, wie die Wände bebten und der Putz von der Decke rieselte, das Donnern der Explosionen, das Heulen der Sirenen.
Bislang 176 Abonnenten hat sein Youtube-Kanal „Tobico Adventures“ (@tobico97), das ist ziemlich ordentlich für die kurze Zeit. „Ich hab’ die beste Community“, sagt Tobias Colin. Seine Follower begleiten ihn sozusagen auf seinen verborgenen Streifzügen, geben ihm Tipps, wo er sich mal umsehen kann, damit sie sich das Video davon anschauen können – in eine ehemalige „Irrenanstalt“, ein vermoderndes Landgasthaus, den Atomschutzbunker, in dem das Licht noch ging und in dem Colin Atemnot bekam. Das ist ziemlich unterhaltsam anzuschauen, der 26-Jährige ist ein offener, witziger Typ, der sagt was er denkt, so wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Er berichtet, was er über den verlassenen Ort herausfinden konnte, den er gerade untersucht oder er erklärt, was er an Ausrüstung dabei hat, wenn er die verborgenen Welten erkundet. Kesse Sprüche gibt’s gratis dazu.
Ehrenkodex im Lost Place: Nichts mitbringen, nichts wegnehmen, nichts zerstören
Manchmal wird nichts draus. Der letzte Bunker des abends, in einer Schlucht, ein Waldstück nahe der Innenstadt. Beeindruckende Kulisse schon von draußen, aber die Zugänge sind zu gut verschlossen. Nachfrage bei einem anderen Urbexer, der schon drin war – keine Chance. Abbrechen. Ohne Gewalt kein Zugang. Wer Lost Places erkundet, bringt nichts mit, nimmt nichts mit, zerstört nichts. Es gibt noch genug andere verlorene Orte zu erkunden.
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