Wir haben sechs Kandidatinnen und Kandidaten aus Siegen-Wittgenstein zum Online-Gespräch gebeten. Im ersten Teil ging es um Klima und Wirtschaft.
Frage 1
Kann es in Deutschland gelingen, den allgemeinen Lebensstandard zu halten und gleichzeitig dem Klimawandel wirksame Maßnahmen entgegenzusetzen? Wie wird der Beitrag Siegen-Wittgensteins zum Klimaschutz aussehen, was bedeutet das für Wirtschaft und Infrastruktur?
Volkmar Klein: Klimaschutz und Arbeitswelt müssen wir gemeinsam sehen und als Zweiklang anstreben. Ich glaube auch, dass wir das schaffen. Wir wollen das Klima nicht schützen durch Abschalten, sondern durch neue Technologien. Ich glaube, dass wir da schon gut unterwegs sind, dass wir in Deutschland schon einiges erreicht haben – wir haben ja auch den CO2-Ausstoß schon um 40 Prozent reduziert. Wir können das, wenn wir entsprechende Technologien einsetzen, die im übrigen sehr viel Geld kosten. Allein deshalb muss unsere Wirtschaft erfolgreich bleiben, sonst können wir das nicht bezahlen. Gerade unsere Firmen in Siegen-Wittgenstein haben die Technologien im Angebot für zum Beispiel Green Steel. Wir werden uns das nur leisten können, wenn Geld genug da ist, wenn unsere Wirtschaft erfolgreich ist. Wir müssen jetzt sehen, dass wir die richtigen Wege bahnen und dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze bei uns, in Hilchenbach, in Geisweid, bestehen bleiben, weil wir am Ende des Tages eine klimaneutrale Industriegesellschaft sein wollen und uns nicht nur klimaneutral in den Wald zurückziehen. Ich glaube, dass wir das auch schaffen.
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Luiza Licina-Bode: Wir müssen die Klimawende als Chance begreifen. Das bedeutet für uns, wir wollen eine Klimawende, die auch Arbeitsplätze schafft. Wir werden massiv in erneuerbare Energien investieren müssen, so dass das dazu führt, dass wir auch viele Arbeitsplätze schaffen. 54 Milliarden Euro sind schon vorgesehen für Klimaschutzmaßnahmen. Wir müssen 15 Millionen Elektroautos auf die Straße bringen bis 2030. Das betrifft natürlich die Automobilindustrie und die Automobilzulieferer hier in Siegen-Wittgenstein. Da ergibt sich ein enormes Potenzial, wenn es zum Beispiel darum geht, Lade-Infrastrukturen auszubauen. Oder auch Wasserstoff als Antrieb für Lkw. Das alles sind Aufgaben, vor denen ein Land noch nie gestanden hat, weil seit vielen Jahren nicht passiert ist. Das bedeutet massive Investitionen in Schiene, in Straße, in erneuerbare Energien, in die Digitalisierung. Wenn wir klimaneutral umsteigen wollen, werden wir auch die Radwegenetze ausbauen müssen.
Guido Müller: Wir lassen die Unternehmen einfach mal machen. Die FDP möchte den CO2-Deckel. Der Staat gibt den Rahmen vor, und innerhalb dieses Rahmens müssen wir uns bewegen. Dann wird es spannend. Viele Maschinenbauer, viele technische Unternehmen in der Region werden den Weg finden und einen Exportschlager daraus machen. Umwelttechnologie kann durchaus sexy sein. Die meisten Parteien haben für sich entschieden, dass sie das 1,5-Grad-Ziel einhalten wollen und von Symbolpolitik weg wollen. Müssen Windkraftwerke im Mittelgebirge stehen oder finden wir sinnvollere Möglichkeiten? Vielleicht findet in Siegen-Wittgenstein jemand einen Weg, Speichertechnologie nach vorn zu bringen. Man muss den Unternehmen einfach die Luft geben, Erfindungen umzusetzen. Klimawende heißt für mich, auch über Energie nachzudenken. Schwere Pressen gehören meines Erachtens mit Wasserstoff bewegt. Nicht jeder muss sich ein E-Auto anschaffen. Wenn wir alle um 18 Uhr anschließen, sind die morgens nicht aufgeladen. Synthetische Kraftstoffe funktionieren CO2-neutral, sie sind nur einfach noch zu teuer. Der Staat muss uns in Ruhe lassen, damit wir machen können.
Henning Zoz: Grüner Stahl – das ist doch eine Mär, dass wir glauben, wenn wir etwas Ideologisches machen, macht die Welt es uns nach. Ich lade dazu ein, einmal die Grenze nach Frankreich zu überschreiten und nach der Einstellung zu Kernenergie zu fragen. Wir kaufen den Atomstrom aus Frankreich, damit wir bei uns abschalten können. Das wird so nicht kommen, dass Deutschland die Vorreiterrolle macht. Wir müssen technologieoffen bleiben. Bitte keine Windräder mehr, weil wir doch irgendwann verstanden haben müssen, dass jedes weitere Windrad ausschließlich dazu führt, dass der Strom teurer wird. Das mit dem Klima ist falsch. Der Klimawandel ist hinzunehmen, wir können das Erdklima nicht beeinflussen.
Laura Kraft: Uns stehen große Herausforderungen bevor, auch wenn Herr Zoz das alles anders sieht. Wir brauchen eine grüne Transformation der Industrie und der Wirtschaft. Wir wollen klimagerechten Wohlstand schaffen, wir stellen uns hinter eine sozialökologische Marktwirtschaft. Wir können das auch schaffen, wenn wir die richtigen Weichen dafür stellen. Wir können mit den Erneuerbaren wohnen, heizen, wirtschaften, und wir müssen natürlich auch energieeffizient handeln. Durch eine Transformation der Wirtschaft schaffen wir auch neue Arbeitsplätze. Die Unternehmen, die Industrie sind besonders wichtig, wenn wir auf eine klimagerechte Zukunft hinarbeiten wollen, wenn wir auf den 1,5,Grad-Pfad kommen wollen. Dazu kommt die Infrastruktur, dazu gehört die Digitalisierung. Wir müssen vom Individualverkehr wegkommen, auch wenn er in den nächsten Jahren noch eine gewisse Rolle spielen wird. Man muss aber auch Alternativen schaffen. Dazu gehört der Ausbau des Schienennetzes, das ist in den letzten Jahren vernachlässigt worden. Damit alle Regionen mitgenommen werden und eine Umstellung zu klimaneutraler Industrie stattfinden kann, wollen wir einen regionalen Transformationsfonds auflegen, mit dem wir die Unternehmen unterstützen. Wir arbeiten an vielen Ecken und Enden, wir drehen an vielen Stellschrauben, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Es reicht nicht zu sagen, wir wollen nur Solaranlagen oder nur Windkraft.
Ekkard Büdenbender: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir den Lebensstandard sogar ausbauen können, wenn wir uns klimaneutral verhalten. Wir müssen unsere komplette Produktion, unseren Lebenswandel umstellen. Wir leben im Moment auf Verbrauch, auf Verschleiß und nicht auf bewahrenden Werten. Wir drehen uns immer wieder im Kreis, produzieren alles neu. Alle Produkte sind so hergestellt worden, dass wir sie morgen schon wieder ersetzen müssen. Dadurch verbrauchen wir unsere Zeit, unsere Ressourcen. Wir müssen uns mit der Wissenschaft, den Betrieben, den Gewerkschaften und den Universitäten zusammensetzen und uns überlegen, wie können wir das System so umbauen, dass das, was wir geschaffen haben, Bestand hat und wir keine Ressourcen verbrauchen. Gleichzeitig müssen wir überlegen, wie wir unseren Wirtschaftskreislauf am Leben halten. Unseren Lebensstandard würden wir dadurch erhöhen, dass wir viel weniger arbeiten gehen müssten und endlich die großen Lücken im Bereich Bildung, Pflege, Gesundheit schließen könnten. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wo unsere großen Schwächen waren. Die lagen nicht in der Produktion von Autos, Föns oder Waschmaschinen, sondern da, wo es auf den Menschen ankam.
Guido Müller: Zu Ekkard Büdenbender: Die Art, wie wir derzeit im Wachstum leben, wird ein Ende haben. Wir brauchen einen qualifizierten Konsum. Zu Henning Zoz: Man kann pessimistisch sein. Wenn wir Ceta und Ttip ernst nehmen, als USA und Kanada mit an Bord nehmen und die EU sich auch einig wird, kann grüne Wirtschaftspolitik tatsächlich auch ein Exportschlager werden. Ich bin da deutlich optimistischer, der Markt dafür ist da. Das könnte tatsächlich funktionieren. Zu unseren beiden ehemaligen Volksparteien und den Grünen: Was mich an eurer Politik stört, dass ihr immer sagt, ihr als Staat müsst geben und machen. Ihr gebt alles nach oben, und dann wird’s nach unten verteilt. Ich sehe es genau andersherum: Neue Ideen entstehen von unten. Das ist der Unterschied in der Denke. Wir müssen sicher mit mehreren Parteien zusammenkommen. Ihr glaubt, das ganze Wissen liegt beim Staat. Aber wenn ich mir Verwaltung und Bundestagsabgeordnete angucke: Die haben nicht das Fachwissen, um Wirtschaftspolitik von oben nach unten zu bestimmen.
Ekkard Büdenbender: Windenergie ist eine herrliche Sache, vor allem weil man sieht, wie viel Energie wir tatsächlich verbrauchen. Ein Atomkraftwerk ist weit von uns weg, das sieht nicht jeder. Jeder aber, der ein Windrad in der Nähe hat und ein zweites nicht will, muss sagen, auf welche Energie will ich verzichten, welche Produkte werden wir in Zukunft nicht herstellen. Den Zusammenhang zwischen Energieverbrauch und Energieerzeugung sieht man tatsächlich sehr plastisch, ohne dass man damit katastrophale Schäden anrichtet wie mit Braunkohle oder Atomkraft. Wir haben auch über Autos wenig gesprochen. Wasserstoff ist noch längst nicht so weit, dass das überhaupt eine Alternative ist. Elektroautos bringen uns relativ wenig, weil wir die Entwicklung völlig verschlafen haben und es auch keinen Sinn macht, von heute auf morgen 40 Millionen Elektroautos für Deutschland herzustellen, um weiter mit Individualverkehr-Denken durch die Gegend zu fahren. Gleichzeitig würden wir die 40 Millionen Autos mit Verbrennungsmotoren, die wir jetzt haben, irgendwohin geben – in Länder, wo es gerade sehr wenig Autos gibt. Das heißt: Wir würden den CO2-Verbrauch in der Welt eher hochjagen, weil wir diese 40 Millionen Autos dann zusätzlich auf der Welt haben. Zu Guido Müller: Die Firmen einfach machen lassen – das hat man bei VW und so weiter gesehen, mit Abgasmanipulationen… Nein, das funktioniert nicht. Aber ich weiß, dass in den Firmen sehr viel Innovationskraft steckt. Wenn wir uns hier in der Region weiterentwickeln wollen, müssen die Betriebe unbedingt dazu. Aber sie müssen unter gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen, die wir stellen, produzieren und denken.
Henning Zoz: Zu Guido Müller: Da kann ich mich nur 100-prozentig anschließen. Wir wollen keine Planwirtschaft, wir wollen Wohlstand, Wohlgefühl reicht uns nicht. Deshalb können wir auch nicht hergehen und sagen, die Verbrenner, die genialste Maschine, die die Menschheit je erfunden hat, das was Deutschland richtig gut kann, wollen wir jetzt nicht mehr haben, und dann kaufen wir die Dieselmotiven demnächst aus China. Das wird einen katastrophalen Schaden für Deutschland als Volkswirtschaft bedeuten. Ich widerspreche Guido Müller: Er glaubt, wir wären noch das Wirtschafts-High-Tech-Land. Die Züge sind längst abgefahren, das sind wir schon lange nicht mehr. Woher kommt denn der modernste Computer und das modernste Mobiltelefon seit Jahrzehnten? Eben nicht aus Deutschland. Solaranlagen hat es hier mal gegeben, die sind auch weg nach China. Wir schaffen es nicht, Industrie hier zu halten und schicken sie obendrein raus. Grundsätzlich: Klima können wir nicht schützen. Wir müssen von Klimaschutz zu Umweltschutz. Ich habe von allen nur gehört: Geld ausgeben. Irgendwo müssen wir auch noch was verdienen. Und das bestimmt nicht mit einem Masterplan, den uns eine tolle Regierung präsentiert, sondern von schlauen Köpfen, die ganz unten individuelle Lösungen für alles Mögliche finden. So was heißt dann mittelständische Unternehmer. Die schaffen uns die Arbeitsplätze in diesem Land, die schaffen uns den Wohlstand. Das Wohlgefühl kann dann ja die Politik übernehmen. Aber mehr bitte auch nicht.
Volkmar Klein: Ich glaube nicht, dass der Staat entscheiden kann, welche Energien die Probleme der Zukunft regeln. Guido, du hart einen völlig falschen Eindruck, dass die CDU sich das anmaßen würde. Wenn ich eben über grünen Stahl geredet habe, ist das ein gutes Beispiel. Herr Zoz hat Recht, von allein läuft das nicht. Wir müssen aber den Rahmen hinkriegen. Bei uns sind die Firmen unterwegs und suchen nach internationalen Koalitionen, wie man das hinkriegt. Ich bekomme relativ viel mit, was passiert zum Ausfüllen dieser vom Staat initiierten deutsch-australischen Wasserstoffpartnerschaft. Die wird jetzt von den Firmen mit Leben erfüllt. Da kann doch keiner in Berlin sagen, wie man eine Direktreduktion von Eisenerz mit Wasserstoff macht. Das können doch nur die Techniker aus den Firmen. Ein Punkt, der mir wichtig ist und bisher noch keine Rolle gespielt hat: Das ist der Wald. Darüber müssen wir bei uns in Siegen-Wittgenstein viel mehr reden. Eigentlich gehört Wald auch in den Zertifikatehandel. In irgendeiner Form muss die Klimadienstleistung des Waldes und der Waldbesitzer für die Allgemeinheit honoriert werden. Wir müssen alles tun, dass unsere Waldbesitzer nicht allein gelassen werden.
Luiza Licina-Bode: Wir sind alle Nutznießer des Waldes. Ihn gilt es unbedingt zu erhalten, er muss wieder aufgeforstet werden. Für den Klimaschutz ist der Wald bei uns fundamental. Er ist der Wasserspeicher, er macht die Luft sauber. Es ist alles daran zu setzen, die Waldbesitzer weiter zu unterstützen. Was ich anders sehe als Herr Zoz: Ich bin totaler Fan von Photovoltaik. Ich verstehe nicht, warum er sagt, das ist jetzt in China und wir sind raus. Es ist nicht die Zeit, ständig zu sagen: geht nicht, wir sind überall zu spät. Die deutsche Wirtschaft hat bewiesen, dass sie was kann. Wenn jetzt der Wille da ist und alle die Zeichen der Zeit erkennen, kann man in Märkte wieder einsteigen, neue Innovationen bringen, Jobmotor sein. Man kann schon gucken, dass wir wieder Marktführer werden. Das muss ja auch das Ziel sein. Es wäre irrsinnig, wenn wir jetzt aufgäben. Wir müssen massiv auch in Forschung investieren. Wir haben es in der Corona-Pandemie gesehen: Wenn ein gewisser Druck vorhanden ist und eine gewisse Förderung kommt, kann auch in einem High-Speed-Tempo etwas entwickelt werden. Wir hatten viele Jahre auch einfach mehr keinen Druck. Es gilt jetzt, Gas zu geben.
Laura Kraft: Wir haben die Dringlichkeit bisher immer erkannt. Aber bei der Regierung ist nicht viel passiert. Mittlerweile ist das Thema Klimaschutz recht interessant, alle schreiben sich das aufs Wahlplakat. Aber wenn man sich die Bilanz der großen Koalition anschaut, sieht man, dass viel über Klimaschutz geredet wurde, aber nichts getan wurde. Da ist viel wertvolle Zeit verspielt worden. Herr Klein hat Recht, wenn er sagt, wir müssen die Wälder wieder aufforsten, weil Wälder einen sehr großen Beitrag zum Klimaschutz liefern können. Aber wir müssen das nicht nur lokal denken, es muss auch global gehandelt werden. Das Aufforsten von Wäldern betrifft uns nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit. Wir müssen auch dafür sorgen, dass nicht permanent Regenwald abgeholzt wird für Sojaplantagen. Sehr hilfreich für den Klimaschutz sind die Meere. Ganz wichtig sind die Moore, die wir auch wiederverwässern müssen. Daran schließt sich eine ökologische Transformation der Landwirtschaft an. Ohne Investitionen werden wir nicht auf den klimaneutralen Weg kommen. Natürlich müssen wir in Wissenschaft und Forschung investieren-- da kommen die guten Ideen her. Wir müssen auch Firmen unterstützen, die investieren wollen in nachhaltige Technologien. Niemand möchte Planwirtschaft. Wir wollen sozialökologische Marktwirtschaft. Der Planet hat seine Grenzen, die müssen wir respektieren.
Das Gespräch moderierte Steffen Schwab, die Fragen stellte Florian Adam, der auch auf die Einhaltung der Redezeit achtete
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