Siegen. Anna Boghiguian präsentiert in ihren Werken im Museum für Gegenwartskunst Siegen Vergangenheit und Gegenwart der Menschheit – nicht nur fürs Auge.
Es riecht angenehm nach Honig, wenn der Besucher den ersten von zwölf Ausstellungsräumen in der obersten Etage des Museums für Gegenwartskunst betritt. 300 Rahmen mit Bienenwaben hat Anna Boghiguian zu einem quaderförmigen Raum, einem begehbaren Honighaus, zusammengesetzt. Die Bienenwaben sorgen neben dem olfaktorischen Erlebnis für goldgelbes Licht. Hier möchte man länger bleiben, würde dann aber in den anderen Räumen eine der spannendsten Ausstellungen versäumen, die Siegen seit langem erlebt hat.
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Die 1946 in Kairo geborene ägyptisch-kanadische Anna Boghiguian mit armenischen Wurzeln ist erst sehr spät zur Kunst gekommen. Vorher hat sie die Welt bereist, sich literarisch mit Menschen, ihren Orten, ihrer Geschichte und Kulturen beschäftigt, vor allem auch mit der ägyptischen Vergangenheit. Der Zeit, als ihr Geburtsland britisch fremdbestimmt wurde und durch den Suezkanal internationale Bedeutung erlangte. Erst kurz vor der Jahrtausendwende beschäftigte sie sich auch künstlerisch, zunächst in Kanada und anschließend in Kairo, wohin sie ihr Atelier verlagerte. Inzwischen gilt Anna Boghiguian als eine der weltweit interessantesten Künstlerinnen, die auch international ausstellt. Etwa in Kassel bei der Dokumenta 13, der Biennale in Venedig, in Istanbul, New York,Turin und Nîmes. Die jetzt in Siegen präsentierte Ausstellung wird anschließend nach Valencia wandern.
Ausstellung im MGK Siegen: Anna Boghiguian fügt die großen Themen zusammen
Anna Boghiguian auf eine Kunstform festzulegen, greift viel zu kurz. So werden in der Siegener Ausstellung viele Zeichnungen gezeigt, die große Themen aufgreifen: Die spanische Grippe, vor hundert Jahren etwa so Menschen dahinraffend wie heute Covid 19, den Versailler Vertrag, der den 1. Weltkrieg abschloss. Auch Gandhi und Disraeli, Mussolini und Hitler, die mindestens zwölf Millionen Sklaven und ihre Händler werden thematisiert, so wie das kommunistische Manifest, Imperialismus und Kapitalismus und die Inflation der 1920er Jahre.
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Alle Werke bilden einen weltumspannenden Kosmos, der auch die Gegenwart umgreift, die bestimmt wird durch Me Too, Black lives Matter, Pop und Jazz. Auch Friedrich Nietzsche widmet Boghiguian einen Raum. Der Besucher der Ausstellung meint, ein großes, illustriertes Geschichtsbuch, einem gigantischen Comicband gleichend, aufzuschlagen. Und besonders authentisch: Die Künstlerin hat das Zeichenpapier, handgeschöpft und durch Nadeln an der Wand befestigt, einem Kairoer Antiquitätenhändler abgekauft. Es ist mindestens 100 Jahre alt.
Anna Boghiguian in Siegen: politische Arbeiten und „Garten des Unbewussten“
Eine dritte Dimension entsteht durch Anna Boghiguians Scherenschnitte, die von der Decke eines Ausstellungsraums herunterhängen, auch weil durch einen riesigen Wandspiegel noch raffiniertere optische Effekte entstehen. Etwa dadurch, dass eine Kutsche mit Pferden mehrfach sichtbar wird.
Beitrag zur Buchmesse
Die Ausstellung „Manchmal trifft die Gegenwart unerwartet auf die Vergangenheit“ geht bis zum 9. Januar 2022. Sie ist Teil von Kanadas Kulturprogramm als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2020/21.Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 11 bis 18, Donnerstag 11 bis 20 Uhr.
Eine raumfüllende, kulissenartige Installation, die die Künstlerin 2015 für die Istanbuler Biennale geschaffen hatte, ist das größte Werk der Ausstellung: Riesige Segel mit Umrissen von Erdteilen, Teile eines Schiffswracks, Sand und Salz auf dem Fußboden: Vielleicht auch ein Teil des unsteten Lebens, das Anna Boghiguian führt, die sich selbst als Nomadin bezeichnet. Aber auch politisch zu verstehen: Das Salz, früher auch „weißes Gold“ genannt, trug in der Vergangenheit nachhaltig zur wirtschaftlichen Stärke großer Handelsnationen bei. Vielleicht als Gegensatz zu den weltpolitischen Themen der Ausstellung gedacht: „Der Garten des Unbewussten“ in Raum 11, in dem Pflanzen, Skulpturen aus Holz, Bilder und Texte zum Verweilen und Erholen einladen.
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