Siegen/Vormwald. Der 20-Jährige, der nach eigener Aussage einen 74-Jährigen in Hilchenbach tötete, war schon vorher auffällig. Helfer kamen kaum an ihn heran.

Es ist Tag Sieben im Verfahren gegen einen 20-Jährigen, der gestanden hat, im August 2020 einen Senior in Hilchenbach getötet zu haben. Im Prozess hat der junge Mann bislang geschwiegen, sitzt Woche für Woche ruhig und teilnahmslos auf seinem Stuhl, gähnt hin und wieder. So kenne er ihn, habe den Probanden in all den Jahren fast nie anders erlebt, sagt Bewährungshelfer Reinhold Vater, der zu den vielen gehört, die an diesem Freitag mehr Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringen sollen.

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Spätestens nach dem Wechsel zur Hauptschule und in die siebte Klasse ist der Beschuldigte nicht mehr zur Schule gegangen, wurde später von einer Ärztin als schulunfähig erklärt. Er trank, nahm immer mehr Drogen und entzog sich zugleich mehr und mehr dem Einfluss seiner Eltern. Es folgten Straftaten und erste Verurteilungen, immer wieder Versuche, ihn zu entgiften und zur Therapie zu bringen, Pläne und Enttäuschungen.

Mord in Vormwald: Eltern des Angeklagten forderten Einweisung in die Psychiatrie

„Ein ständiges auf und ab“, formuliert Vater, der den Beschuldigten 2017 erstmals übernahm und danach mindestens wöchentlich von den Eltern und der Schwester des Probanden um Hilfe gebeten wurde. Im direkten Kontakt sei dieser bei ihnen eigentlich immer ruhig und nett gewesen, oder eben so, wie jetzt im Gericht, bestätigen Bewährungshelfer, Betreuerin und die Vertreterin der Jugendhilfe übereinstimmend. Allerdings erlebte Vater ihn auch „völlig außer Kontrolle, im Elternhaus, in dem sämtliche Steckdosen aus den Wänden gerissen waren, weil der Jugendliche an die Kabel fassen wollte, wie der Zeuge von der Mutter erfuhr. Er versuchte, in dessen Zimmer zu gelangen, schaffte es aber nur, von außen zahlreiche Zerstörungen zu sehen. Einmal sei er wütend gewesen, „hat gesagt, wir hätten alle keine Ahnung. Er werde sich nur an die Zehn Gebote halten.“

Immer wieder hätten die – aus seiner Sicht überforderten – Eltern gefordert, ihr Sohn müsse dringend in die Psychiatrie. Der Vater sei eher streng gewesen, die Mutter vergleichsweise nachsichtig. Ins Gefängnis dürfe ihr Junge nicht, da gehe er unter. Für den erfahrenen Sozialarbeiter ist der Beschuldigte „eher der Typ Mitläufer“. Er könne sich auch gut vorstellen, dass dieser von seinen Freunden bei Straftaten vorgeschickt worden sei. Etwa auch von jenem Hilchenbacher, bei dem er eine Zeit wohnte und der mit am Tatort gewesen sein soll.

Expertin äußert vor Gericht in Siegen Kritik an Therapieeinrichtungen

Tanja Vollmer-Derichs empfiehlt als Vertreterin der Jugendhilfe die Anwendung von Jugendstrafrecht und die Unterbringung in der Psychiatrie. Sie habe nie den Eindruck gehabt, mit einem reifen Menschen zu reden, wenn sie mit dem Beschuldigten zu tun hatte. Bei der ersten Begegnung 2018 habe er wissen wollen, ob sie von der SS und ob ihr Wagen verwanzt sei. Der junge Mann sei sehr unruhig und unstet gewesen, sie selbst völlig unvorbereitet: „Ich hatte Angst, er aber auch.“

Sie kritisiert die Therapieeinrichtungen, die es zuließen, dass sich ein Abhängiger wie der Beschuldigte nach drei Tagen selbst entlassen könne. Die Sozialeinrichtungen hätten „keine Handhabe“, klagt Tanja Vollmer-Derichs: „Wir müssen zusehen, wie sich die jungen Menschen selbst zugrunde richten.“ Auch Reinhold Vater wundert sich, dass die Einrichtungen so handelten, obwohl die Probanden mit einer gerichtlichen Auflage zu ihnen kämen.

Junge Frau nahm jungen Hilchenbacher zeitweise bei sich auf

Interessant wird die Aussage einer jungen Frau, die sich eine Zeitlang um den Beschuldigten gekümmert hat, als dieser wieder einmal von den Eltern vor die Tür gesetzt worden war. Er sei wie ein fünftes Kind für sie gewesen, betont die 36-Jährige und weist alle Gerüchte zurück, die in den vergangenen Wochen aufgekommen waren: „Wir hatten keine Beziehung, Mein jüngstes Kind ist nicht von ihm!“ Wenn der Beschuldigte selbst dies behaupte, sei das höchstens Wunschdenken.

Er habe Schutz bei ihr gesucht, ihr leid getan. Sie sei aber nur zu einem gewissen Maße an ihn herangekommen. Immer habe es diese ihr kaum bekannte Clique aus Hilchenbach gegeben, die nur eine SMS hätte schreiben müssen, schon habe er gehorcht. Die hätten ihn gefoltert und für Straftaten missbraucht, er für Drogen alles getan. Sie berichtet von seinen multiplen Persönlichkeiten, unter anderem „Razza“, der alle schlimmen Taten verbrochen hätte, auch von seiner NS-Besessenheit. Er habe sich einmal nach einer TV-Dokumentation dermaßen „hineingesteigert“, dass er Schaum vor dem Mund und Anfälle hatte und sie sich auf ihn setzte um ihn zu bändigen: „Bis der Rettungswagen da war.“

Kurz vor der Tat: Vater weist auf bedenkliches Verhalten des Angeklagten hin

Nach der gemeinsamen Silvesterfeier 2017 habe er sich immer stärker verändert, sei aber immer noch zu ihr gekommen, obwohl sie ihn nach einem Einbruch von Seiten des Vermieters nicht mehr in die Wohnung lassen durfte. Nach den Nachrichten von der Mordtat habe sie sofort an dessen Mitbewohner geschrieben, dass sei doch wohl nicht der Beschuldigte gewesen. Diesen hält sie für den Hintermann, ihr früherer Schützling „hätte so etwas nie getan“.

Am 10. Juli 2020, also etwas mehr als einen Monat vor der Tat, bekam der Bewährungshelfer einen Anruf vom Vater seines Probanden. Dieser sei wieder psychotisch, habe ein Messer geholt und wolle jeden niederstechen, der ihm dumm komme. Die Betreuerin beantragte danach die erneute Unterbringung. Die Anhörung wäre kurz nach dem fatalen Wochenende gewesen. Schon vorher lag allerdings das Gutachten des Psychiaters vor: Keine Gefahr einer Selbstgefährdung. Am 15. April wird das neue Gutachten von Dr. Brian Blackwell gehört.