Eisern. Karl Röcher (83) aus Siegen war einer der ersten Zivis: 1957 sollte er eingezogen werden – offiziell wurde der Zivildienst erst am 1. April 1961.

Auf den Kopf gestellt wird die Welt des kleinen Karl an jenem Tag am Weltkriegsende, als die US-Army mit einem Lkw-Trupp entlang der Hauptstraße seines Heimatdorfs fährt. Er ist siebeneinhalb und hat gewaltige Angst. Zumal vor dem „schwarzen Mann“, den Afroamerikanern, von denen sein Nachbar, glühender NSDAP-Anhänger, Schauergeschichten erzählt hat. Und nun entdeckt ihn einer der dunkelhäutigen GIs, ruft ihm ein „Boy!“ entgegen und wirft ihm ein Päckchen zu. „Das war wohl die erste Schokolade in meinem Leben“, sagt Karl Röcher.

Und es war vermutlich auch zum ersten Mal die Erfahrung, dass Feind auch Freund sein kann, dass Völker sich miteinander verständigen können – durch Ansehen, Ansprechen, Beschenken. Krieg ist die Lösung nicht, das brennt sich dem Jungen aus Eisern bereits 1945 ein. Die Frage nach Frieden, nach Versöhnung wird ihn begleiten.

Karl Röcher war einer der ersten Wehrpflichtigen der Bundeswehr

Von April 1961 ein Jahr lang „Zivi“ in den v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel: der junge Karl Röcher.
Von April 1961 ein Jahr lang „Zivi“ in den v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel: der junge Karl Röcher. © Unbekannt | Privat

Karl Röcher, am 23. November 1937 geboren, zählt zu den ersten jungen Männern, die – nach der Gründung der 1955 neu formierten Bundeswehr – als wehrpflichtig galten. Der gelernte Maschinenschlosser ist engagiert beim CVJM, und auch in diesem Kreis laufen lebhafte Diskussionen zum Pro und Kontra in Sachen Wehrdienst und dessen möglicher Verweigerung. „Lies mal Bonhoeffer“, habe ihm der Eiserner Theologiestudent Hans-Georg Schütz geraten. Der spätere Vorsitzende des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche von Westfalen verwies ihn damit auf den widerständigen Theologen, der in seinem Katechismus 1935 auch das geschrieben hat: „Niemals kann die Kirche Krieg und Waffen segnen. Niemals kann der Christ an einem ungerechten Krieg teilhaben.“

Röcher liest Bonhoeffer. Er liest auch „Der Krieg und das Evangelium“ des aus Genf stammenden und mit Bonhoeffer im Austausch stehenden Pfarrers und Pazifisten Jean Lasserre; er liest, was der CVJM-Sekretär Hans de Boer „Unterwegs notiert“ hat – von einer vier Jahre währenden Weltreise „auf den Spuren des Unrechts“. Und: Karl Röcher besucht in Mülheim ein vom CVJM-Westbund veranstaltetes Seminar zur Frage der Gewissensprüfung. Zu Gast ist Pfarrer Martin Niemöller. Der einstige Marineoffizier, 1934 Mitbegründer der Bekennenden Kirche, KZ-Häftling und Friedensaktivist, plädiert explizit weder für noch gegen die Wehrdienstverweigerung, schärft aber als Gesprächspartner die Wahrnehmung dessen, was das eigene Gewissen sagen könnte.

Die Verweigerung des jungen Siegeners überzeugt

Karl Röcher stellt am 21. Dezember 1957 beim Kreiswehrersatzamt in Siegen einen Antrag auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer. Er beruft sich darin auf Artikel 4 des 1949 in Kraft getretenen Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, in dem die Freiheit auch des Gewissens als unverletzlich beschrieben wird. Die Folge regelt Absatz 3: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Röcher führt in seinem Antrag aus, warum er sich außerstande sieht, Wehrdienst zu leisten. Dreh- und Angelpunkt dabei: sein Glaube. Als „Soldat im Kriege“ einen Menschen „mit unchristlichen Mitten aus dem Wege zu räumen“, das widerstrebe seiner Haltung als Christ.

Damit überzeugt Karl Röcher im Juli 1958 den Prüfungsausschuss für Kriegsdienstverweigerer. Es wird noch dauern, bis er seinen Dienst tatsächlich antreten kann. Ein Grund: Das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst tritt nach rund dreijährigem politischem Tauziehen erst am 20. Januar 1960 in Kraft. Am 20. Dezember erklärt das Bundesverfassungsgericht sowohl die allgemeine Wehrpflicht als auch die Bestimmungen über den Zivildienst für verfassungsgemäß. Am 1. April wird der Zivildienst in Deutschland offiziell eingeführt; am 10. April 1961 treten die ersten 340 anerkannten Kriegsdienstverweigerer der Jahrgänge 1937 und 1938 ihren Dienst an.

Zivi-Pionierarbeit in Bethel: Schmutzwäsche und seelsorgerliche Gespräche

Das Haus Tannenwald in der Zweiganstalt Eckardtsheim in der Bielefelder Senne. In dieser Einrichtung für psychisch kranke Männer tat Karl Röcher seinen Dienst.
Das Haus Tannenwald in der Zweiganstalt Eckardtsheim in der Bielefelder Senne. In dieser Einrichtung für psychisch kranke Männer tat Karl Röcher seinen Dienst. © Unbekannt | Karl Röcher

Für Karl Röcher geht es nach Bethel. Die v. Bodelschwinghschen Stiftungen waren für ihn nicht die erste Wahl. Lieber hätte er einen Friedensdienst absolviert, etwa im französischen Oradour-sur-Glane, wo die Waffen-SS 1944 ein Massaker angerichtet hatte. Aber auch auf das in der Kirchengemeinde in Eisern gelandete Werbeangebot aus Bielefeld ging er ein, leistete dort als einer der ersten 26 „Zivis“ in Bethel Pionierarbeit. Denn die jungen Männer mussten selbst in diesem diakonischen Werk gegen ihren „Drückeberger“-Ruf an arbeiten. Was ihnen gelang, nicht nur beim Schmutzwäschewaschen.

Karl Röcher wird im Haus Tannenwald in der Zweiganstalt Eckardtsheim in der Bielefelder Senne eingesetzt, einer Einrichtung für psychisch kranke Männer. Von Ankleiden bis Essenreichen, von arbeits- und beschäftigungstherapeutischen Maßnahmen bis zum seelsorgerlichen Gespräch reicht das Spektrum seiner Aufgaben. Es macht ihn nachdenklich, dass viele der Patienten kaum zwanzig Jahre zuvor als „unwert“ eingestuft und der Vernichtung ausgesetzt waren.

Reicher Erfahrungsschatz fürs Leben

Von April 1961 ein Jahr lang „Zivi“ in den v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel: der junge Karl Röcher.
Von April 1961 ein Jahr lang „Zivi“ in den v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel: der junge Karl Röcher. © Unbekannt | Privat

Und so schützt er auch jenen Mann vor der Zwangseinweisung in die „Geschlossene“ in Eickelborn, der ihn in der Vollmondnacht des 16./17. Februar 1962, der Hamburger Sturmflutnacht, im Wahn ergreift und beinahe erwürgt. Ein Glück für Röcher, dass er mit einem Fuß eine Notfallklingel zwischen den Betten des Schlafraums erwischen konnte. „Du warst schon blau“, habe ihm sein rettender Kollege später gesagt. Die beiden melden den Vorfall offiziell nicht.

Liebe und Einsatzbereitschaft forderte der Dienst in Bethel den jungen Männern ab. Nach den zwölf Monaten dort bescheinigt „Bruderpfarrer“ Rudolf Lutterjohann dem damals 24-jährigen Röcher, dass er genau das geleistet habe. Er „half, wo er nur konnte“, schrieb ihm die Direktion der Westfälischen Diakonenanstalt Nazareth ins Zeugnis. Nicht nur die „besten Wünsche“ begleiteten Röcher auf dem weiteren Lebensweg, sondern auch ein Erfahrungsschatz, der es ihm später ermöglichte, seinen Mitmenschen mit weitem Blick zu begegnen: als technischer Leiter im Familienunternehmen, als Ehemann und Vater von vier Kindern, als Dirigent des Posaunenchors, als Mitarbeiter im CVJM, im internationalen Austausch.

Als Zivi knapp 50 Mark Sold im Monat

Als Schule des Lebens bezeichnet er die Zeit in Bethel. Die hat auch etwas mit seinem Bund fürs Leben zu tun. Sein Trompetenspiel auf der Beerdigung einer in den Anstalten versorgten Tochter aus wohlhabenderem Hause berührte den Vater des Mädchens so, dass er dem einsamen Trauerzugmusiker (der dazugehörige Chor war, vielleicht wegen eines Missverständnisses, nicht angetreten) einen Schein zusteckte. Röcher: „Als ich später nachsah, waren das 50 Mark – und damit fast so viel wie mein monatlicher Sold.“ Der 83-Jährige lacht: „Das war der Anfang von den Trauringen.“ Die nämlich erwarb er recht bald bei einem Bielefelder Juwelier – und konnte bei einem der seltenen Besuche daheim Doris, die Verlobte, glänzend überraschen.

Als ihm vor gut drei Jahren seine älteste Tochter am Telefon eröffnet, dass sie – als evangelische Pfarrerin im Kirchenkreis Düsseldorf ein Vierteljahrhundert im Berufsschuldienst – als Seelsorgerin zur Bundeswehr gehen werde, gibt es zwischen Silke Röcher-Hoffmann (inzwischen beim Evangelischen Militärpfarramt Rheinbach) und Karl Röcher einen Moment der Stille. Dann ist vom Vater zu hören: „Das ist eine wichtige Aufgabe.“ Und: „Keine Angst, ich bin kein Pazifist!“

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