Siegen. Der Mann, der sich in Siegen unter anderem wegen Pöbeleien gegen den Ortsbürgermeister von Eckmannshausen verantworten muss, gewährt Einblicke.

Der Angeklagte hat ein ziemlich komplexes Selbstbild. Wenn er zu viel getrunken habe, „renne ich pöbelnd durchs Dorf. Das geht überhaupt nicht!“ Er schließt da auch die Vorfälle ein, bei denen er im Juli 2020 vor dem Haus des Ortsbürgermeisters in Netphen-Eckmannshausen randalierte, diesen und seine Familie heftig bedrohte.

Die standen beim vorherigen Verhandlungstermin vor dem Siegener Landgericht im Mittelpunkt. Sein Kontrahent habe durchaus zur Eskalation beigetragen, wiederholt der 35-Jährige frühere Vorwürfe, will aber die eigene Gesamtverantwortung nicht bestreiten. Dafür lehnt er ärztliche Gutachten, die ihm in der Vergangenheit eine psychische Störung bescheinigt haben, entschieden ab. Alle seine Probleme und Straftaten seien eine Folge der Sucht nach Alkohol und Benzodiazepinen. Er habe sicherlich schwierige Charakterzüge aufgrund seiner Vita, sei aber nicht psychisch krank, ist er überzeugt.

Siegen: Angeklagter deutet vor Gericht traumatische Erlebnisse in DDR-Kinderheim an

Ihr Sohn sei im Sommer 2020 sehr aufgebracht gewesen gegen den Ortsbürgermeister, habe sich in die Enge getrieben gefühlt, weil dieser ihn nicht in Ruhe habe zelten lassen, berichtet die Mutter zu Beginn des Prozesstages. Sie wolle versuchen, die Fragen des Gerichts zu beantworten und ihren Teil zur Aufklärung beizutragen, versichert die Frau, die gemeinsam mit ihrem Mann den Angeklagten und seine jüngere Schwester 1991 adoptierte.

Damals war er fünf, kannte seine leiblichen Eltern praktisch gar nicht und hatte im Kinderheim in Potsdam gelebt. Schlimme Sachen seien dort passiert, ergänzt er später selbst, weil er seiner Mutter zu viel Schweres ersparen möchte. Ihm seien 10.000 Euro aus dem Entschädigungsfonds der Regierung zugesprochen worden.

Angeklagter vor Gericht in Siegen: Erste Therapie bereits im Grundschulalter

Im neuen Zuhause fühlte er sich grundsätzlich wohl, wurde aber noch lange von der Vergangenheit verfolgt, hatte Alpträume und machte schon in Grundschulzeiten eine psychiatrische Therapie durch. Er hält sich in dieser Hinsicht für geheilt, nicht alle sind aber dieser Ansicht. In der Schule hatte er Probleme, kam früh an Drogen und später auch Alkohol. Die Medikamente holte er sich bei einem vor Jahren bekannten Siegener „Szene-Arzt“, wurde auch früh straffällig.

Neben Diebstählen und Bedrohungen stehen Gewalttaten im Register. Ab 2012 verschwand er für Jahre in der Psychiatrie, hält die damalige Diagnose für falsch und beklagt, in all dieser Zeit das eigentliche Problem der Sucht nicht habe angehen zu können. Dazu passe aber kaum das Vorbringen der Bewährungshelferin, dass er ihm verordnete Termine bei der Suchtberatung nicht wahrgenommen habe nach seiner Entlassung 2019, wundert sich Richterin Elfriede Dreisbach.

Mutter sieht Coronakrise als Mitauslöser der Probleme

Seine Mutter hatte berichtet, der Angeklagte sei zu Fuß oder mit dem Rad zur Arbeit gekommen, immer sehr engagiert und bemüht gewesen. „Ich bin um halb fünf aufgestanden, dann eine Dreiviertelstunde zur Arbeit, schließlich acht Stunden gearbeitet“, bestätigt er und macht geltend, einfach keine Zeit für die anderen Dinge gefunden zu haben. Was die Vorsitzende zu einem eher seltenen persönlichen Ausruf veranlasst. „Nun hören Sie doch mal auf, auf die Tränendrüse zu drücken“, wirft sie lachend ein: „Das machen wir unser ganzes Leben!“

Für die Mutter hat Corona eine gewisse Mitverantwortung an der aktuellen Situation. Anfang 2020 habe der Sohn seine Arbeit verloren. Danach sei der Alkohol schleichend wieder in dessen Leben gekommen, „im Sommer hat er morgens, mittags und abends getrunken“, sei für ihren Mann und sie nicht mehr ansprechbar gewesen. Damit konnte er nicht mehr zu den Eltern zurück, zumindest nicht bei ihnen wohnen. Er selbst hat Verständnis dafür. Es sei klar vereinbart gewesen, dass er betrunken nicht ins Haus komme.

Angeklagter übernachtete im Zelt im Garten der Eltern in Eckmannshausen

Er durfte aber schließlich mit seinem Zelt im Garten übernachten. Frische Wäsche, Badezimmer und Lebensmittel stellten die Eltern trotz allem zur Verfügung und halten auch nach der Verhaftung weiter zu ihrem Sohn. Die Flucht in Zelt und Wald betrachtet die Mutter als Sehnsucht nach Freiheit, nach Unabhängigkeit, „er wollte sich minimieren“. Der Angeklagte möchte sein Leben ändern, will eine Therapie, aber nur auf freiwilliger Basis. Zwang lehne er grundsätzlich ab.

„Sie wissen aber schon, dass wir nur wegen Ihrer Straftaten hier sitzen“, macht die Vorsitzende deutlich. Alles andere interessiere die Kammer erst einmal nicht. Verteidiger Daniel Nierenz hatte im Vorfeld mit ihr telefoniert und eine Zwangstherapie in einer Entziehungseinrichtung angeregt. Das könne erst nach dem Gutachten erörtert werden, gibt Elfriede Dreisbach bekannt. Darauf angesprochen, besteht der Angeklagte auf seiner Ablehnung gegen Druck, möchte gern selbst eine Therapie vereinbaren und die Strafrückstellung nach §35 BtMG in Anspruch nehmen.

Schmerzen und Beeinträchtigungen nach Sturz auf der Straße

Das gehe nur bei Drogen, warnen die Richter. Dann soll das Gutachten erstattet werden, Nervenarzt Dr. Bernd Roggenwallner hat aber Bedenken. Gerade zur entscheidenden Tatzeit im Juli 2020 hat der Angeklagte einen schweren Unfall gehabt, ist auf der Straße unter Einfluss von Medikamenten und Alkohol nach einem langen Partytag in der Sonne umgefallen und mit dem Kopf auf die Bordsteinkante geschlagen. Erst mit Verspätung wurde ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit Blutungen festgestellt.

Der Mann litt lange Zeit an Beeinträchtigungen und Schmerzen, war gereizt. Das könne erhebliche Auswirkungen auf seinen Zustand und die Steuerungsfähigkeit gehabt haben, überlegt der Mediziner und bittet darum, den ihm vorher nicht bekannten Vorgang erst näher studieren zu können, mit Hilfe der CT-Bilder und der Arztberichte. Seine Schlussfolgerungen werden nun erst am 22. März gehört.

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