Siegen-Wittgenstein. Wegen der Corona-Krise muss die AWO die Entgelte von Menschen mit Behinderung senken. Was bleibt: 151 Euro für einen Vollzeitjob.

Der AWO-Kreisverband Siegen-Wittgenstein/Olpe senkt die Entgelte der Beschäftigten in seinen Werkstätten für Menschen mit Behinderung auf den Grundlohn von 99 Euro. Der Einschnitt ist laut Kreisverband wegen der in der Corona-Krise deutlich gesunkenen Umsätze erforderlich und macht einmal mehr ein System-Problem sichtbar: Die Bezahlung der Beschäftigten in diesem Bereich ist vom Mindestlohn weit entfernt. Betroffen sind rund 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kreisgebiet.

Die monatlichen Bezüge der Beschäftigten setzen sich zusammen aus einem Arbeitsförderungsgeld in Höhe von 52 Euro, das der Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) zahlt, einem Rentenzuschuss von rund 474 Euro sowie einem Grundlohn von 99 Euro (seit 1, Januar, vorher waren es 89 Euro) und einem so genannten Steigerungsbetrag. Während Förderungsgeld und Rentenzuschuss gesetzt sind, müssen die Werkstätten den Grundlohn und den Steigerungsbetrag erwirtschaften. Letzterer schwankt je nach Leistungsfähigkeit und Output der Beschäftigen zwischen 50 Cent und 331,50 Euro im Monat und ist unmittelbar von der Höhe des Gesamtergebnisses abhängig. Im Schnitt waren es 2020 genau 55,29 Euro.

AWO-Kreisverband Siegen-Wittgenstein: In Werkstätten ab Januar nur noch Grundlohn von 99 Euro

Die AWO-Werkstätten verzeichneten 2020 aufgrund der Corona-Krise etwa 42 Prozent weniger Umsatz, wie Kreisverbands-Geschäftsführer Dr. Andreas Neumann erläutert. Sechs Monate lang seien die Entgelte aus Rücklagen weitergezahlt worden, im November waren diese aber aufgebraucht.

Der Kreisverband habe aus eigenen Mitteln die Zahlungen auch im Dezember geleistet, sagt Andreas Neumann, "es hätte sonst für die Beschäftigten eine besondere Härte vor Weihnachten bedeutet". Am vergangenen Dienstag aber seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter informiert worden, dass nun nur noch der Grundlohn gezahlt werden könne. Der sei trotz einer noch überschaubaren Auftragslage gesichert, sagt Mattias Sanna, Leiter des Bereichs Berufliche Teilhabe. Mehr aber eben nicht.

Lockdowns und Corona-Folgen treffen AWO-Werkstätten in Siegen-Wittgenstein hart

Der erste Lockdown im März, eingeschränkte Möglichkeiten zur Verlagerung in Heimarbeit, Betretungsverbote und Quarantäne-Regelungen wegen Corona-Fällen an den Standorten Deuz und Siegener Heidenberg, der nächste Lockdown im Dezember: Die Krise traf die Werkstätten volle Breitseite. Es kommen Aspekte hinzu, die die Lage zusätzlich verschärfen, wie Andreas Neumann erklärt:

- Strukturelle Ausrichtung. "Werkstätten in Deutschland sind unterschiedlich betroffen", sagt der Geschäftsführer. Diejenigen, die vor allem Eigenprodukte herstellen, hätten durch den Verkauf von Beständen oft nach wie vor Umsätze generieren können. In Siegen-Wittgenstein arbeiten die Werkstätten aber Aufträge von Unternehmen ab, rund 100 solcher Kunden gibt es. Wenn jedoch in den Werkstätten nichts laufen kann, entfällt diese Einnahmequelle.

- Das System. "Wir bekommen aus den Hilfsprogrammen keinerlei Unterstützung", betont Andreas Neumann. Die Soforthilfen hätten nicht abgerufen werden können, da diese für kleine und mittlere Unternehmen aufgelegt worden seien und der AWO-Kreisverband mit insgesamt rund 1400 Beschäftigten nicht darunter falle. Vor allem aber, so der Geschäftsführer, "fallen Menschen mit Behinderung aus allen Systemen heraus". Es liege eine "strukturelle Benachteiligung" vor, die in der gegenwärtigen Situation deutlich zu Tage trete. Bei den gesetzlichen Regelungen "wurde diese Gruppe nicht gesehen und fällt durch alle Raster".

- Kategorien. "Ein normaler Betrieb würde Kurzarbeit anmelden", sagt Andreas Neumann. Das ginge aber nicht, weil Beschäftigte in Werkstätten nicht als "Arbeitnehmer" gelten, sondern einen "arbeitnehmerähnlichen Rechtsstatus" haben.

AWO-Werkstätten in Siegen-Wittgenstein: Möglichkeiten vor Ort sind ausgereizt

Die Möglichkeiten, die Umsatzeinbußen durch interne Maßnahmen zu mindern, seien ausgereizt, wie Ulrich Eimermann, Vorsitzender des Werkstattrats, der die Interessen der Beschäftigten mit Behinderung vertritt, unterstreicht. "Werkstattrat und Geschäftsführung hatten sehr viele Gespräche. Was vor Ort gemacht werden konnte, wurde gemacht."

Werkstattrat und AWO fordern nun Lösungen seitens der Politik, und zwar kurzfristige und langfristige. Anfang Dezember habe der Kreisverband diverse Politikerinnen und Politiker in einem "Hilferuf" angeschrieben, wie Andreas Neumann berichtet. In der unmittelbaren Krisen-Situation sei etwa eine Bezuschussung des Grundlohns aus Bundesmitteln hilfreich, und "Akuthilfen müssten so sein, dass sie auch uns nützen".

Beschäftigte mit Behinderung in Siegen-Wittgenstein: Forderung nach Anpassung an den Mindestlohn

Auf lange Sicht aber plädiert der Kreisverbands-Chef für eine Anpassung der Entgelte an den Mindestlohn, finanziert aus Bundesmitteln. 2020 erhielten die Beschäftigten der AWO-Werkstätten in Siegen-Wittgenstein im Schnitt 196,29 Euro netto inklusive Steigerungsbetrag im Monat - "kein angemessener Lohn für eine Vollzeitbeschäftigung". Wer mit solchen Bezügen nicht zusätzlich eine Erwerbsminderungsrente beziehe, müsse trotz des Jobs Grundsicherung beantragen. Da müsste "man sehen, wie sich das auf die Motivation, überhaupt zu arbeiten, auswirkt".

"Es ist nicht fair", unterstreicht Beschäftigtenvertreter Ulrich Eimermann. Es liege eine klare Benachteiligung vor. Zudem werde ausgeblendet, dass im Arbeitsalltag "die Anstrengung von Menschen mit Behinderung viel größer" sei, um die Leistung zu erbringen. "Wir wollen ernst genommen werden", sagt Ulrich Eimermann. "Auch wir arbeiten für die deutsche Wirtschaft."

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