Netphen. Das ist die Geschichte von Jannik Gillberg: Trotz Handicap nach einem Unfall hat er am Netphener Gymnasium einen Abschluss geschafft.

Im Sommer 2014 wäre Jannik Gillberg einer von vielen gewesen, die ihre Schullaufbahn in einer 5. Klasse des Netphener Gymnasiums beginnen. Jannik kommt ein Jahr später. Denn im Januar 2014 erfasst ihn ein Auto, als er bei Grün der Fußgängerampel über die Straße geht, mit hoher Geschwindigkeit. Jannik hat keine Chance. Er wird schwer verletzt, erleidet ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und liegt mehrere Wochen im Koma.

Im Sommer 2015 wird er in die 5 b des Gymnasiums aufgenommen. Zieldifferent, mit Integrationshelferin und neuropsychologischer Begleitung. Jannik Gillberg ist der Erste, der diesen Weg des inklusiven Unterrichts am Netphener Gymnasium gehen kann. Und der ihn jetzt auch mit einem Hauptschulabschlusszeugnis abschließt. Notendurchschnitt: respektable 2,6.

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Die Tür öffnen – oder: Wie Inklusion beginnt

„Inklusion war der Türöffner“, sagt Schulleiter Eckhard Göbel, „dass Jannik seinen Lebensweg schulisch wie geplant fortsetzen konnte.“ Ein Türöffner war aber auch Jannik selbst: Heute besuchen 23 Kinder die Klassen des Netphener Gymnasiums, die nach einem ihrem Handicap angepassten Lehrplan (eben: „zieldifferent“) unterrichtet werden. Einer wie Jannik wäre da jetzt niemand mehr, der in der Schülerschaft besonders auffiele. „Das würde mir nichts ausmachen“, sagt der 16-Jährige, dem die geballte Aufmerksamkeit vielleicht nicht immer angenehm gewesen ist. Aber er hat eine Erfolgsgeschichte daraus gemacht.

Janniks gemaltes Abschiedsgeschenk für Schulleiter Eckhard Göbel: Ein bisschen Astronomie, der Regenbogen und der Vers mit dem Aufzug.
Janniks gemaltes Abschiedsgeschenk für Schulleiter Eckhard Göbel: Ein bisschen Astronomie, der Regenbogen und der Vers mit dem Aufzug. © Privat | Privat

Auf dem Tisch steht ein Bild, gezeichnet mit wasservermalbaren Buntstiften, das Jannik dem Schulleiter zum Abschied geschenkt hat: Es zeigt den Eingangsbereich der Schule, eingetragen sind die geografischen Koordinaten – eine Anspielung auf die Zeit in der Astronomie AG von Eckhard Göbel. 50,91 Grad nördliche Breite, 8,9 Grad östliche Länge. Und auf dem Dach weht eine Regenbogenflagge. Dass er hier zur Schule gehen würde, sei schon vor dem Unfall klar gewesen, berichtet Jannik. So wie sein großer Bruder, der hier 2019 Abitur gemacht hat.

Zur Schule gehen – oder: Was alles möglich ist

Zum Rückblick auf die vergangenen sechs Jahre zeigt Jannik eine Powerpoint-Präsentation. Die Station 1b, die kinderneurologische Frührehabilitation des Clemenshospitals in Münster, auf der er nach dem Unfall zwei Monate lang stationär aufgenommen war, und wo sie immer mal wieder gerne vorbeischauen. Die Einschulung. Der Schülerlauf. Fußballturniere. Das Jugendschwimmabzeichen in Gold. Und der jährliche Wichteltag, an dem die Gymnasiasten sich den Viertklässlern vorstellen, die in die nächste 5 kommen. Jannik hat dafür eine Fußballecke erfunden. „Ich habe in der Reha schon wieder angefangen mit dem Fußballspielen.“ Die Klassenfahrt mit der 6 b nach Wangerooge – und, wegen Corona, keine Abschlussfahrt nach Berlin. Auf Wangerooge konnte er, wie alle anderen auch, die Wegstrecken mit dem Fahrrad zurücklegen. Wieder ein Stück mehr Normalität. „There is no elevator to success“, steht auf dem Bild. Jannik steigt Treppen.

Alles neu lernen – oder: Wie der Kopf wieder voll wird

Jannik hat nach dem Unfall alles neu lernen müssen. Sich bewegen, Muskeln ansprechen, trinken, essen, sprechen, gehen, schwimmen, Fahrrad fahren, schreiben und rechnen. Statt als Vertreter der eigenen Schule an der zweiten Runde der Matheolympiade teilzunehmen, wiederholt er das vierte Grundschuljahr in Dreis-Tiefenbach.

Türöffner

Das sind Menschen, für deren Begleitung Jannik Gillberg dankbar ist: Notärztin Dr. Michaela George, Dr. Thomas El Ansari, Intensivstation am Klinikum Jung-Stilling, und sein Team, die Station 1b des Clemenshospitals Münster mit Physiotherapeutin Ramona Brand und Physioschüler Nils Wiedenhöft. Und die Therapeuten vor Ort: Logopädin Susanne Özer Bullut, Ergotherapeutin Christine Mahlich, Neuropsychologin Nadine Holstein, Physiotherapeutin Monika Altz, Physiotherapeut Luis Otero, das SPZ der DRK-Kinderklinik mit Dr. Holger Petri.

Die 7. Klasse bekommt die Hausaufgabe, einen Rap zu verfassen. Da schreibt Jannik auf, wie er sich damals fühlte: „Es gab eine Zeit, da ging gar nichts mehr. Ich hatte noch meinen Kopf, aber der war leer. Ich konnte nicht stehen und nicht gehen.“ Der Arzt erklärt: In der Frührehabilitation werden schlummernde Hirnregionen wieder geweckt, durch den Unfall beeinträchtigte Bereiche werden trainiert. „Das ist für die Kinder jeden Tag viel Arbeit und zeitweise sehr anstrengend“, schreibt Chefarzt Dr. Otfried Debus, Leiter der 1b. „Auch Jannik musste diese manchmal harte Zeit bei uns ‚abarbeiten‘.“

Am Anfang ist er mit dem Auto zur Schule gefahren worden, später legt er den Schulweg, in Gesellschaft von Klassenkameraden oder dem großen Bruder, mit dem Bus zurück. In der Schule unterstützt ihn Integrationshelferin Dorothee Karthaus. In Deutsch, Physik, Chemie, Erdkunde, Politik, Religion, Kunst, Biologie, Sport und der Differenzierungskurs Biologie/Sport nimmt Jannik am Unterricht seiner Klasse teil; für andere Fächer hat er sein eigenes Programm. Hinzu kommt die wöchentliche neuropsychologische Begleitung.

Wieder stark werden – oder: Wen Beckenbauer bewundert

„Ich spreche wieder, ich will noch mehr“, heißt es in Janniks Rap über Mut und Willensstärke, „es ist noch mein Kopf, und er bleibt nicht leer.“

In der Jugendspielgemeinschaft Adler Dielfen/TSV Weißtal findet Jannik, der mit vier Jahren erstmals die noch zu großen Fußballschuhe anzog (mit doppelten Socken) eine neue sportliche Heimat. Derzeit stürmt er, zwei Mal in der Woche, mit der B-Jugend. Vor dem Unfall war er in der Leichtathletik Netphener Stadtmeister, im Fußball schoss er in seiner F-Jugend-Saison 82 Tore. Ein Studium an einer Sporthochschule, Profikicker, das waren die Ziele.

Beim TSV Weißtal wurde er in der D-Jugend zusätzlich zu Trainingseinheiten der jungen Leistungsmannschaften zum Koordinationstraining eingeladen, und das über fast zwei Jahre. „Das hat sich sehr positiv ausgewirkt, für den Sport und auch für das Lernen“, sagt Karin Gillberg, – und so, wie Janniks Mutter das hervorhebt, ahnt man, dass solches Engagement nicht selbstverständlich ist. „Gib niemals auf, denn mit deinem Willen und Kampfgeist kannst du Berge versetzen“, heißt es in einem Brief an Jannik – von Franz Beckenbauer, der dem Bayern-Fan einen Fußball mit Original-Autogrammen geschickt hat.

Die Laufbahn justieren – oder: Wie eine Perspektive entsteht

Als sich abzeichnet, dass Jannik als nächstes Ziel den regulären Hauptschulabschluss anstrebt, wird an der Stundentafel geschraubt: Hauswirtschaft und Arbeitslehre kommen hinzu – für das Gymnasium, das sich nicht wie so viele andere aus der zieldifferenten Förderung verabschiedet hat, ist auch das Neuland. Kochen? „Wenn man vernünftige Rezepte bekommt, die am Ende auch schmecken…“, meint Jannik eher achselzuckend. Fußball ist einfach die bessere Alternative. Was nicht heißt, dass die Stunden in der Elektrowerkstatt und der Astronomie AG keinen Spaß gemacht hätten.

„Wir haben viele individuelle kreative Lösungen gefunden“, sagt Annedore Hellwig. Seit zweieinhalb Jahren ist die Sonderpädagogin am Gymnasium in Netphen, unterrichtet die Förderschüler in Deutsch, Mathe und Englisch und berät das Kollegium in Inklusionsfragen. Sein Meisterwerk legt Jannik im Differenzierungskurs Bio-Sport hin: Seine vertonte Präsentation über das Aufwärmen fürs Volleyballspiel, samt zu Hause im Garten gedrehten Filmchen, bekommt eine 1.

Ziele haben Jannik – oder: Was Jannik motiviert

Jannik hat viel aufzuholen. In der siebten Klasse notiert er: „Ich habe den Mut und weiß, was ich will. Bin noch lange nicht am Ziel.“ Seine Mutter hat einmal aufgeschrieben, wie sich seine Tage mit Schule und Fußball, Logopädie, Ergo- und Physiotherapie, Neuropsychologischem Training, Konfirmandenunterricht und mit Bouldern füllen – da blieb nicht viel Raum zum Spielen. Aber irgendwie war das auch gut so, denn zum Spielen gab es auch lange keine Freunde mehr, die sozialen Kontakte waren weggebrochen, mit seinen Beeinträchtigungen war er Außenseiter.

„Klar, ich muss mehr lernen.“ Jannik kann lachen, witzig sein. Aber er wirkt auch ernsthafter als viele seiner Altersgenossen, deren Kindheit unbeschwerter verlaufen ist. Denn Jannik hat Ziele: am Berufskolleg AHS möchte er den Hauptschulabschluss nach Klasse 10 und danach den mittleren Schulabschluss aufsatteln, vielleicht, wenn es geht, auch noch die Fachoberschulreife. „Ich will Physiotherapeut werden“, sagt Jannik. Wenn er das schafft, wird er einer von denen sein, die am besten nach- und mitfühlen können.

Stolz sein dürfen – und: Von Jannik lernen

Chefarzt PD Dr. Otfried Debus gratuliert aus dem Clemenshospital: „Dass du den eingeschlagenen Weg so konsequent und erfolgreich weitergegangen bist, freut uns sehr.“ Glückwünsche sendet Gerlinde Hoß, zum Unfallzeitpunkt die Klassenlehrerin des Bruders und Einführungsstufenleiterin: „Vor einer solchen Entwicklung gilt es den Hut zu ziehen.“ Lehrerin Nawina Saßmannshausen: „Ich kenne Jannik seit der 5. Klasse und finde es einfach wunderbar, wie er die Schule letztendlich gerockt hat.“„Es war nicht immer alles nur schön“, schreibt Jannik selbst , „aber nun habe ich es geschafft. Freunde habe ich auch gefunden. Die ganzen Ferien haben wir uns im Dorf draußen getroffen. Das bleibt.“

Querdenken: Das hat Eckhard Göbel dem Jahrgang von Janniks großen Bruder zur Verabschiedung mitgegeben. Beim Abschied von Jannik hat der Schulleiter diese Worte ergänzt. Neu denken. Die Schule. Und das Leben. „Darin bist du für mich ein echtes Vorbild.“ Und jetzt muss Jannik los. Eine Englischarbeit in der neuen Schule steht an.

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