Siegen. Das Berliner Ensemble bringt die „Blechtrommel“ von Günter Grass auf die Bühne des Siegener Apollo-Theaters,

Die Apollo-Bühne ist mit einer dicken Torfschicht bedeckt. Vielleicht der Verweis auf einen westpreußischen Kartoffelacker. Denn in Danzig wurde Günter Grass geboren, einer der wichtigsten deutschen Nachkriegsautoren. Und auf einem Acker beginnt auch die Geschichte des Oskar Matzerath.

Ganz großes Theater

Seine Großmutter ließ dort einen Mann, der auf der Flucht war, unter ihre vier Röcke kriechen. Das spätere Ergebnis dieses ungewöhnlichen Asylortes: Tochter Agnes, die dann in jungen Jahren den kleinen Oskar zur Welt brachte. Ein Säugling, dessen geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen war, wie auch sein Wachstum, das mit 94 Zentimetern endete und erst wieder einsetzte, als er 21 Jahre alt wurde. Oskars große Freude in all diesen Jahren waren Blechtrommeln, auf die er unermüdlich einschlug und bisweilen auch zertrümmerte.

Nico Holonics spielt den trommelnden Oskar Matzerath, der aus Protest beschließt, nicht mehr wachsen – und gleich auch alle anderen Rollen in der Bühnenfassung des Romans von Günter Grass
Nico Holonics spielt den trommelnden Oskar Matzerath, der aus Protest beschließt, nicht mehr wachsen – und gleich auch alle anderen Rollen in der Bühnenfassung des Romans von Günter Grass © Wolfgang Leipold

Die Lebensgeschichte von Oskar Matzerath ist auch eine Geschichte Deutschlands, beginnend Mitte der 1920er Jahre und endend mit der Niederlage Nazideutschlands 1945. Wie es Nico Holonics vom Berliner Ensemble schafft, diese bewegten Zeiten und all die Mitmenschen Oskars lebendig werden zu lassen, gehört in die Reihe der ganz großen Theaterwunder.

Verfilmt von Volker Schlöndorff

„Die Blechtrommel“ von Günter Grass erschien 1959. 1979 wurde der Roman von Volker Schlöndorff verfilmt. Der kleinwüchsige David Bennent spielte die Hauptrolle.

2010 kam das Stück erstmals auf die Theaterbühne. Die aktuelle Fassung wurde 2015 in Frankfurt uraufgeführt.

Denn in knapp zwei Stunden schlüpft Holonics in unzählige Rollen, die ihm eine ständige Anpassung der Sprache, der Mimik, der Bewegungen abverlangen. Mal laut und schrill, mal Baby, mal Liebhaber, mal im Oberton, mal in tiefstem Bass, mal Mutter, mal Vater. Und davon hatte Oskar zwei: Seinen Erzeuger Bronski und Alfred Matzerath, einen dickbäuchigen rheinischen Koch, der seiner Mutter materielle Sicherheit gibt und dessen Namen er lebenslang tragen muss.

Dabei ließ sie auch sonst kaum eine Sünde aus. „Am Ende ihres Lebens wurde sie fromm“, erzählt Oskar, „ihr lüsternes Leben machte sie süchtig nach Sakramenten.“ Dass sie bei der Geburt eines weiteren Kindes stirbt, gehört zu den Momenten des Abends, die den Zuschauern den Atem stocken lassen. Doch auch ihre Männer lassen Federn: Bronski wird hingerichtet, weil er der Freischärlerei beschuldigt wird, und Matzerath stirbt einen doppelten Tod: Er verschluckt sich an der Parteinadel der NSDAP, die er 1945 vor den einmarschierenden Russen verschwinden lassen will, erhält aber von den Soldaten der russischen Armee noch zusätzlich eine Gewehrsalve verpasst.

Pferdeköpfe und Brausepulver

Doch dazwischen erlebt das Theaterpublikum alle die Szenen, auf die es als eifrige Romanleser gewartet hat: etwa wie westpreußische Fischer sich mit Pferdeköpfen auf die Jagd nach Aalen machen. Manchem im Saal wird nach der Beschreibung der sich in den Gehirngängen eines Pferdekopfes windenden Aales der Appetit auf diese Aasfresser endgültig vergangen sein. Oder auch Oskars erste Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht, der 17-jährigen Maria. Sowohl in der Umkleidekabine des Seebads, als er die Freuden der Erkundung des weiblichen Körpers erlebt, wie auch die legendäre Geschichte mit dem Brausepulver in Marias Bauchnabel.

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„Sonst darf immer das Publikum probieren. Geht nicht wegen des Abstands. Also probiere ich allein“, sagt Nico Holonics augenzwinkernd. Zu den ironischen Zwischentönen des Regisseurs Oliver Reese gehört auch der Satz des ewigen Trommlers ganz zum Schluss: „Die Hauptrolle des Stückes ist falsch besetzt, ich verzweifle am Theater.“ Doch wie vorher schon in weit über 100 Vorstellungen, darunter auch in London und New York: Zunächst atemloses Schweigen und dann Ovationen, auch im Apollo.

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