Siegen. Prof. Raimund H. Drommel ist Begründer der forensischen Linguistik in Deutschland und klärt anhand der Tätersprache Verbrechen auf – auch Morde.

Die forensische Sprachwissenschaft wurde gleich an der Grenze zum Siegerland begründet: Im Kreis Altenkirchen. Weil Prof. Raimund H. Drommel Verkehrspolizisten geschult hatte, wurde er einer der namhaftesten Sprachdetektive der Welt. 1400 Fälle hat Drommel, der auch an der Universität Siegen lehrte und in dieser Zeit die Disziplin begründete, inzwischen gelöst; üble Nachrede, Beleidigungen, Schmähungen, auch Morde. Zeitweise wollte ihn die RAF töten.

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Die Disziplin der forensischen Sprachwissenschaft: Geburtsstunde im Siegerland

Altenkirchen, 80er Jahre. Wenn Polizisten Autofahrer anhalten, hängt der Haussegen schief. „Sie wissen, warum wir Sie anhalten?“ – keine gute Voraussetzung für gelungene Kommunikation. Linguist Raimund Drommel schulte die Polizisten in der Konfliktbewältigung. Als Mitte der 80er Jahre der Polizeichef anonym bei seinen übergeordneten Behörden angeschwärzt wurde, identifizierte Drommel den Autor aufgrund seines amtssprachlichen Stils: Als Polizist hatte er so viele Protokolle geschrieben, dass er den Verhörstil nicht ablegen konnte. So schrieb er etwa in einem privaten Brief: „Ich bin in unmittelbarer Nähe der Polizeidienststelle wohnhaft“, in einem Beschwerdebrief an eine Metzgerei hieß es: „Meine Frau hat die Steaks ordnungsgemäß zubereitet.“

Das war so etwas wie die Geburtsstunde der sprachwissenschaftlichen Kriminalistik in Deutschland. 1986 fing Drommel an – mit Computerunterstützung. „Texte Wort für Wort durchzuarbeiten, wäre manuell gar nicht leistbar.“ Programme scannen die Texte durch, erkennen und sortieren Ähnlichkeiten – und der Experte evaluiert.

Die RAF setzte Raimund H. Drommel auf eine Todesliste

In enger Zusammenarbeit mit den Behörden befasste Drommel sich in den 80er und 90er Jahren auch mit der 3. Generation der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF). Veröffentlichungen der Sympathisanten-Szene im Umfeld der RAF wurden mit Bekennerbriefen abgeglichen, um deren Urheber zu ermitteln. Die inhaftierten Terroristen gaben der Führungsebene „draußen“ Anweisungen zu Anschlägen.

Alle nutzten die gleichen Bücher, die zudem im Regal gleich angeordnet waren – die dienten als Quellen für das geheime Kommunikationssystem: Man tauschte sich sehr engagiert etwa über Literatur, Esoterik oder Kunst aus, die unauffälligen Briefe passierten die Kontrollen problemlos. Unter der harmlosen Textoberfläche befanden sich aber die wahren Botschaften für die Attentate. Beliebt unter den Damen waren auch Back- und Kochrezepte, weil diese als Textsorte bereits Handlungsanweisungen enthielten. Die RAF setzte Drommels Namen auf eine ihrer Todeslisten.

Zu Drommels Kunden gehören auch Behörden, Ermittler, die Justiz

Kunden von Raimund H. Drommel sind heute überwiegend Unternehmen, die beispielsweise von unzufriedenen Mitarbeitern oder Konkurrenten geschmäht oder diffamiert werden – aber auch Behörden, Ermittler, die Justiz. „Hass und Neid sind die primären Motive“, sagt Drommel über seine Gutachtertätigkeit – und das Internet treibt das immer weiter auf die Spitze. Der Hass im Netz breitet sich aus. Etwa 60 Gutachten verfasst er pro Jahr.

Drommel kann bei sechs ihm unbekannten Personen anhand ihrer Texte sicher sagen, welche davon ein Paar sind – in einer Beziehung eignet man sich die Sprache des anderen an. Eine Wette gegen den Spiegel hat er auch gewonnen: Das Nachrichtenmagazin rühmt sich eines Stils, der es erlaube, mitten im Text den Autor zu wechseln, ohne dass der Leser das merkt. Drommel fand die „Sollbruchstelle“.

Die Arbeitsweise: Jeder Mensch hat einen individuellen, unverwechselbaren Stil

Zugrunde liegt Drommels Arbeit die Annahme, dass jeder Mensch über ein individuelles Sprachprogramm verfügt, vergleichbar einem Fingerabdruck. Herkunft, Ausbildung, Muttersprache; Wortschatz, Dialekteinfluss – die Sprache jedes einzelnen Menschen ist unverwechselbar. Und er ist sich dessen meist nicht bewusst. Dieser Individualstil ermöglicht es Fachleuten, Menschen zu identifizieren.

Statt eines Täterprofils erstellt der forensische Sprachwissenschaftler Autorenprofile: Die enthalten alle relevanten typischen Informationen, die sich aus einem Text ziehen lassen und die Hinweise auf die Identität eines Schreibers geben können. In der ersten Situation liegen dem Sprachprofiler Schreiben vor, es gibt keine Verdächtigen. Dann ist es seine Aufgabe, aus den Texten möglichst viele Informationen über den Autor zu ziehen. Oder, wenn es Verdächtige gibt: Dann kann der Sprachprofiler den Verdächtigenkreis eingrenzen, indem er die Texte mit den Sprachproben vergleicht.

Jeder Text steckt voller kleiner Hinweise auf den Autor

Juristisch sauber, erklärt Drommel, wird zuerst nach Unterschieden gesucht, nach entlastenden Sprachmerkmalen. Ist ein Mensch detailverliebt oder interessiert er sich mehr für das große Ganze, schlägt sich das in seiner Sprache unbewusst nieder. Ist er schüchtern oder extrovertiert, ebenfalls. Ist er visuell, akustisch oder taktil geprägt, wählt er beispielsweise entsprechende sprachliche Metaphern: „Ich kann es nicht mehr hören“ oder „Ich kann es nicht mehr sehen“.

Jeder, der Texte produziert, spickt sie mit vielen kleinen Hinweisen, die in der Summe ein Autorenprofil ergeben können: Wer immer im Blocksatz schreibt, tut das nicht plötzlich im linksbündigen Flattersatz. Wer immer fälschlicherweise einen Leerschritt vor Punkt oder Komma setzt (siehe Zweittext), hört damit nicht plötzlich auf. Wer nach Satzende immer die Enter-Taste drückt, tut das auch in Schmähbriefen. Und selbst wenn er sich dessen bewusst ist und sich sprachlich verstellt, lassen sich daraus Rückschlüsse ziehen.

Die Beispiele: Vom Mord im Rotlichtmilieu bis zu Fake-Bewertungen unter Zahnärzten

Der Rotlicht-Mord: Eine junge Frau hatte ihren Chef bei der Polizei angezeigt: Sie arbeitete im Kiosk einer Rotlicht-Größe, es gab den Verdacht, dass der für Geldwäsche und Versicherungsbetrug diente. Der Täter, Chef des Opfers, zwang sie, von ihm diktierte Briefe mit der Hand zu schreiben und die Aussagen zu widerrufen. Der Täter wollte sie dann außer Landes bringen, erstickte die Frau dann aber mit einer Plastiktüte über dem Kopf. Raimund Drommel fand heraus, dass der Sprachstil der Widerrufe nicht zum Sprachstil des Opfers, sondern perfekt zu dem des Täters passte.

Der schwedische Bischof: Immer, wenn Dick Helander sich auf ein Amt bewarb, wurden seine Mitbewerber in anonymen Briefen diffamiert. Schwedische Linguisten, in den 50er Jahren führend in der Sprachforensik, arbeiteten seine Täterschaft heraus. Helander wurde abgesetzt.

Der englische Taxifahrer: Der war wegen Mordes zum Tode verurteilt worden und hatte auch ein Geständnis unterschrieben. Das allerdings passte nicht zum Sprachstil des Mannes, der Analphabet war. Der vermeintliche Mörder wurde rehabilitiert – post mortem.

Fake-Bewertungen unter Zahnärzten: 21 reichlich negative Bewertungen musste ein Zahnarzt aus Süddeutschland über seine Praxis in entsprechenden Foren lesen. Sein Verdacht: Ein Kollege macht ihn schlecht, denn im gleichen Zeitraum waren insgesamt 48 Positiv-Bewertungen über genau diesen Kollegen in den Portalen verfasst worden. Der Arzt wandte sich an Raimund Drommel und dessen Chef-Profilerin Britta Richarz: Beide konnten schließlich nachweisen, dass die Autoren der meisten dieser Bewertungen, positiv wie negativ, nicht verschiedene Patienten waren, sondern es sich um ein und dieselbe Person handelte – zahlreiche Sprachmerkmale stimmten überein, beispielsweise typische Formulierungen, wiederkehrende Lieblingswörter oder Fehler wie Leerzeichen vor Punkt und Komma. „Über die Praxis des Geschädigten wird das genaue Gegenteil von dem behauptet, was an der Praxis des Verdächtigen positiv hervorgehoben wird“, so Drommel. Um den Ärztekollegen aber objektiv zu be- oder entlasten, brauchte es Vergleichstexte, die der Mann verfasst hatte. Und anhand derer konnte Drommel gerichtsfest nachweisen, dass der Autor der Positiv-Bewertungen der Zahnarzt-Konkurrent war. Und damit auch, dass er die Negativ-Bewertungen verfasst hatte.

Weitere lesenswerte Beispiele und mehr Informationen gibt es in Raimund Drommels Buch „Der Code des Bösen“ und auf seiner Homepage sprachprofiling.com.

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