Werthenbach. Helena Franchimont entdeckt im Internet die Geschichte der Sinti-Familie in Werthenbach. Ihr Großtante kam im Backes zur Welt und wurde vergast.
Helena Franchimont entdeckte das Foto im Internet: Zwei Frauen vor dem Unterdorfer Backes in Werthenbach, die eine offensichtlich schwanger. Die Wertenbacher Dorfwerkstatt hat im vorigen Jahr einen Gedenkstein an dieser Stelle gesetzt: Dort im Backes wurde am 17. Mai 1935 Elisabeth Wagner geboren – sie wird neun Jahre später in Auschwitz ermordet, weil sie „Zigeunerin“ ist. Elisabeth, so erkennt Helena Franchimont, war die Schwester ihrer Großmutter.
Ortsbürgermeister Rainer Berlet bekommt Mitte August eine Mail aus Den Haag. Helena Franchimont würde gern mehr über ihre Großtante erfahren. „Ich würde es begrüßen, wenn wir zusammen am Tisch sitzen und unsere Dokumente vergleichen könnten.“ Und so geschieht das auch gut zwei Wochen später. Rainer Berlet hat Cathy Waegner dazugeholt, die die Konversation aus dem Englischen und Deutsche und zurück übersetzt. Und natürlich Irmtrud und Heinz Reinelt, die für die 2011 zum Ortsjubiläum erschienene Chronik den Beitrag über das kurze Leben von Elisabeth Wagner verfasst haben.
Im Unterdorfer Backes geboren
Der Kaffee bleibt lange in der Kanne, der Kuchen lange unberührt. Ganz schnell steigt die Runde ganz tief in die Einzelheiten ein. „I think, that’s Emily“, sagt Helena Franchimont und deutet auf die junge Schwangere auf dem Bild vor dem Backes: Emilie Wagner, die mit ihrem Ehemann August immer wieder einmal durch Werthenbach kam. Im Spritzenhaus hatten die Zigeuner immer übernachtet. Als Emilie vor der Niederkunft stand, öffneten die Werthenbacher für sie und August den geheizten Backes. Dort kam Elisabeth zur Welt.
Sie emigrierten wohl 1938 in die Niederlande, August war in Amsterdam geboren. Das Ehepaar wurde 1943 nach Auschwitz verschleppt, die Eheleute wurden getrennt. Sie kam nach Ravensbrück, er nach Flossenbürg. Elisabeth wurde wahrscheinlich noch bei Freunden oder Verwandten in den Niederlanden versteckt. Sie starb in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in der Gaskammer von Auschwitz.
Irmtrud und Heinz Reinelt haben die Kopie der Geburtsurkunde von Elisabeth mitgebracht. Über der Unterschrift des Irmgarteichener Standesbeamten Ley stehen drei Kreuze: „Von dem Anzeigenden wegen Schreibensunkunde mit seinem Handzeichen versehen“, steht als Erklärung davor. Ins Kirchenbuch trägt Pfarrer Schimmelfeder den Wohnort „Überall und Nirgends“ ein. Er meinte das wohl nicht böse, die Werthenbacher selbst nehmen auch Anteil. Maria Katharina Groos, Haushälterin im Jagdhaus, wird als Taufpatin für die kleine Elisabeth eingetragen.
Helena Franchimont ist nicht zum ersten Mal in Deutschland und Polen auf den Spuren ihrer Familie unterwegs, von Werthenbach aus wird sie nach Heidelberg zum Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma weiterfahren. Die Stiftung, der sie vorsteht , ist nach ihrer Großmutter Theresia, Emilies Schwester, benannt. Sie ist das einzige Kind von August und Emilie, den „Zigeunern“ der Werthenbacher, das den Holocaust überlebt hat. „We are still here“, sagt Helena Franchimont. Sie ist die einzige in der Familie, die so intensiv nachfragt. Für die anderen, vor allem die Älteren, sei das auch heute noch zu schmerzlich.
Fragen kann man niemanden mehr
Noch mehr Dokumente kommen auf den Tisch. „Conrad Banning“ steht auf der Häftlingskarte von 1944 aus Buchenwald – August habe sich einen anderen Namen zugelegt, als er in die Niederlande nach Den Haag zurückgekehrt sei, zum Schutz vor den Nazis. „Arbeitsscheu“ ist als „Grund“ für die Verschleppung ins KZ angegeben. Die Sterbeurkunde wird am 25. Dezember 1944 im thüringischen Sangerhausen ausgestellt, das für das KZ Mittelbau Dora zuständig ist. „Herzschlag“ steht als Todesursache auf dem Blatt. „Er wurde erschossen“, weiß Helena Franchimont.
Lagerbücher in Auschwitz
Wichtige Quelle für die Werthenbacher Recherchen waren die Lagerbücher des KZ Auschwitz. Drei polnische Häftlinge stahlen sie im Juli 1944 und versteckten sie zwischen Lagerzaun und einer Baracke. „Erst 1949 erinnerte sich ein Überlebender und führte Mitarbeiter der Gedenkstätte Auschwitz an diese Stelle“, berichtet die Werthenbacher Chronik.
Im Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg wurden die Eintragungen ausgewertet.
Die Diskussion im Werthenbacher Bürgerhaus wird kompliziert. August, sagt Helena Franchimont, war niemals in Amsterdam. Dort aber soll er geboren sein. 1918, haben die Werthenbacher herausgefunden. 1890, sagt der Gast aus den Niederlanden, in Den Haag. „Unser August ist nicht euer August“, folgert Irmtrud Reinelt, „unser August war nie in Buchenwald.“ Einer könnte der Sohn , der andere der Vater sein. Ist die schwangere Frau auf dem Foto tatsächlich schon 40 – oder ist sie noch doch eher ein 15-jähriges Mädchen? Sind auf dem Familienfoto aus den 1930ern, das Helena Franchimont mitbringt, gar nicht Eltern und Kinder, sondern Großeltern und Enkel abgebildet? „Schwierig, das zu rekonstruieren“, meint Cathy Waegner beim Übersetzen, „wir können niemanden mehr fragen.“ Aber, so wirft ihr Ehemann Heinrich Waegner ein, „ist das wirklich so wichtig?“
Fest steht, dass Elisabeth, die im Werthenbacher Backes zur Welt kam, die die Schwester von Helena Franchimonts 2002 verstorbener Großmutter war. Die Gruppe geht die paar Schritte ins Unterdorf. Dorthin, wo die Dorfwerkstatt die Gedenktafel aufgestellt hat. Man rekonstruiert: Hier stand das Spritzenhaus, dort das Backhaus, davor der Wagen mit dem Holz. Und die beiden Frauen, von denen eine schwanger war. Helena Franchimont weiß um die Bedeutung solcher Orte. In Den Haag gab es so einen Platz, wo die Familie sich ein letztes Mal getroffen hatte. Immer und immer wieder sei ihre Großmutter dorthin zurückgekehrt, ein Jahr lang. „Nobody came back.“ Niemand kam zurück.
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