Netphen. Netphener Gymnasiasten lernen, wie Rettungsdienst funktioniert, und werden selbst aktiv. Donnerstags unterrichtet Amtsleiter Thomas Tremmel.
. Auf den Hof der Siegener Rettungswache rollen Kleinbusse, unter ihnen der Transporter der Netphener Kinderfeuerwehr. Für die Neuntklässler des Netphener Gymnasiums ist es die 6. Stunde, die Leben-Lernen-Wahlpflichtstunde am Donnerstag. Ihr Fach: Nicht Theater, nicht Töpfern, nicht Turnen. „Selbsthilfe kennen, lernen, multiplizieren“ steht auf dem Stundenplan. Den Unterricht erteilt Thomas Tremmel, Leiter des Amts für Bevölkerungsschutz beim Kreis Siegen-Wittgenstein. Wenn er da wäre. Eben ist er mit Blaulicht vom Platz gerast.
Hintergrund: Das Projekt
Die 19 Neuntklässler haben in diesem Schuljahr bei ihrem Bio- und Chemielehrer Dr. Georg Dechert schon Erste Hilfe gelernt, als Thomas Tremmel im März dazu stieß: Was bedeuten Sirenensignale? Wen ruft man wie um Hilfe? Was ist eigentlich ein NEF, ein Notarzteinsatzfahrzeug? Thomas Tremmel steht vorn an der Tafel – da, wo ihm, dem Herzhausener, bis zu seinem Abi 2003 selbst von vielen inzwischen längst pensionierten Lehrkräften auf den Zahn gefühlt wurde. Oft geht die 9 aber auch auf Tour. Zum Rettungshubschrauber, zum DRK, zur Feuerwehr. Oder eben, wie heute, zur Leitstelle.
In der Leitstelle: Rotlicht
Thorsten Günther, Tremmels Stellvertreter, führt die Gruppe in den Raum der Kreiseinsatzleitung. „Heute ist ein sehr guter Tag“, findet Disponent Christian Michel. Es ist viel los. Hinter der Glasscheibe, in der Leitstelle, leuchten rote Lampen an den fünf Arbeitsplätzen auf, jedes Licht ist ein gerade angenommener Notruf. Ein Gong, eine vom Computer erzeugte Frauenstimme: „Einsatz RTW 3 nach Siegen.“ In diesem Moment gleiten Notfallsanitäter der Siegener aus der Wache in die Fahrzeughalle, nicht mit dem Aufzug, sondern an der Rutschstange, sechs Meter in die Tiefe. Das geht am schnellsten.
An dem Monitor, den Christian Michel den Gästen vorführt, wird nur gespielt. In Bad Laasphe hat es gebrannt, die Verletzten sind mit dem Rettungswagen nach Bad Laasphe gebracht worden. „Da ist jetzt nichts mehr.“ Soll heißen: Der nächste Rettungswagen, der in der Kurstadt gebraucht wird, muss von der Nachbarwache ausrücken. Michel kann das alles sehen und über den Bildschirm steuern. „Du hast jetzt eine Rauchvergiftung“, entscheidet Michel, der den jungen Mann neben ihm kurzerhand zum verletzten Feuerwehrmann macht, „für dich suchen wir jetzt ein Krankenhaus.“ Der Disponent sieht, wo Platz ist, und meldet den Notfall an.
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Thomas Tremmel trifft ein. Der Amtsleiter, gelernter Berufsfeuerwehrmann und studierter Brandschutzingenieur, hat gerade einen Rettungseinsatz am Siegener Bahnhof koordiniert. Zwei Rettungswagen hatte die Polizei dazugeholt, weil eine widerspenstige Ausreißerin, nicht viel älter als die Besucher vom Gymnasium, mit Pfefferspray auf die Beamten loszugehen drohte. Das erfährt die Zeitungsredaktion später von der anderen Leitstelle auf der anderen Seite der Weidenauer Straße, nicht vom Bevölkerungsschützer des Kreises. „Wir haben völlig verschiedene Interessen“, macht Tremmel der Schülergruppe klar: Die Polizei ist für Sicherheit und Strafverfolgung da – den Sanitätern sollen sich Opfer wie Täter gleichermaßen anvertrauen dürfen. Da geht es einfach nur ums Leben.
Zum Abschluss ein Angebot an Senioren
Am Ende des Schuljahres wird es nicht dabei bleiben, dass 19 Neuntklässler ganz viel wissen – sie sollen es auch weitergeben. Projekt ist ein Notfall-Faltblatt, das die Jugendlichen für ältere Menschen erarbeiten und im Rahmen des Neuland-Projekts des Gymnasiums, bei dem Schüler Senioren unterrichten, vorstellen.
Die Tür in die Leitstelle wird geöffnet, die Neuntklässler dürfen den Disponenten für ein paar Minuten über die Schulter schauen. Leise, um die Konzentration der Feuerwehrbeamten auf die Gespräche mit den Hilfesuchenden nicht zu stören. Die erfragen knapp, was los ist, und entscheiden blitzschnell, von wo welche Hilfe losgeschickt wird. Zurück im Raum der Einsatzleitung stellt Tremmel Fragen: „Was darf auf keinen Fall passieren?“ „Wann ist mit den meisten Einsätzen zu rechnen?“ „Welche Telefonnummer hat die Leitstelle?“ Klar: Dass ein Notruf kommt und niemand ans Telefon geht, ist ein No-go – die Wahrscheinlichkeitsrechnung („Freut euch drauf“) ist ein Hilfsmittel, um den Personalbedarf zu berechnen. Bei Unwettern geht es hier am meisten rund, „Blitzeis ist extrem ärgerlich für uns.“ Und: Nicht jeder, der hier anruft, wählt die 112. Für den Krankentransport gibt es die 19222, für ganz Allgemeines eine normale Festnetznummer – da geht dann, wenn zu viel am Notruf los ist, manchmal wirklich keiner dran. Die Polizei erreicht die Leitstelle auf Knopfdruck, und umgekehrt auch – bei Verkehrsunfällen geht das ganz schnell.
Hintergrund: Die Ziele
Wozu das alles? Thomas Tremmel hat das Pilotprojekt an seiner alten Schule im selben Moment gestartet, als die Kreispolitik mit den Beratungen über den neuen Rettungsdienstbedarfsplan begann. Das ist kein Zufall, das eine hat mit dem anderen zu tun: „Wir wollen Selbsthilfefähigkeit stärken.“ Denn Ersthelfer können die Zeit bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes – in der Fachsprache: das „therapiefreie Intervall“ – überbrücken. Daneben ist das Ganze aber auch ein Stück Berufsfelderkundung: Notfallsanitäter, Feuerwehrfrau oder-mann, Disponent – was man so alles werden kann: „Wir werben für unseren Beruf.“ — Interesse an einer weiteren Auflage des Projekts haber auch andere Schulen bereits bekundet. Wenn für das Gymnasium Netphen selbst etwas abfällt, hätte der Lehrer auch nichts dagegen: „Ich möchte die Jugendlichen gern für den Schulsanitätsdienst gewinnen“, sagt Dr. Georg Dechert.
In der Leitstelle: Applaus
Aufbruch aus der Kreisleitstelle. Der Rückweg führt durch die Fahrzeughalle, das Hoheitsgebiet der Stadt Siegen. Thomas Tremmel stellt einen Rettungswagen und die Ausstattung der Sanitäter vor. Schule ist Schule, und die hat immer ein Ende. Die Zeit ist rum. „Wir sehen uns nächsten Donnerstag wieder.“ Die Schüler klatschen Beifall. Davon kann ein Lehrer nur träumen.
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