Siegen. . Harald Martenstein liest bei der 5. Siegener Biennale. Es geht um das Vatersein, Politiker und Feminismus. Besucher hoffen auf weiteren Auftritt.
Das Apollo-Theater wird für Harald Martenstein fast zur zweiten Heimat. Neue und alte Glossen unterhalten prächtig und sorgen auch für eine Prise Nachdenklichkeit bei der 5. Siegener Biennale.
Apollo-Intendant Magnus Reitschuster bringt es bei seiner Begrüßung auf den Punkt: „Martenstein macht süchtig.“ Sonst wäre es kaum nachvollziehbar, dass der Zeit-Kolumnist auch bei seinem dritten Besuch
Bekannter Kolumnist
Der 1953 in Mainz geborene Martenstein studierte nach dem Abitur Geschichte und Romanistik an der Uni Freiburg und durchlief die Redaktionen renommierter Tageszeitungen in Stuttgart, München und Berlin.
Bekannt wurde er über seine Glossen und Kolumnen in der „Zeit“, von denen er viele in seinen Büchern veröffentlichte. Viele seiner Texte des Abends in Siegen entstammen seinem neuesten Buch „Jeder lügt, so gut er kann“.
in Siegens Theater wieder auf volle Stuhlreihen blickt. Doch gegenüber seinem letzten Auftritt hat sich etwas Entscheidendes verändert: Statt einer gut temperierten Flasche Riesling von feinster Provenienz steht nur noch ein Glas Wein vor ihm und dazu eine Karaffe guten Siegerländer Leitungswassers.
Noch mehr ist im Leben des Harald Martenstein anders. Er hat nur noch eine halbe Stelle beim Berliner Tagesspiegel „ohne Präsenzpflicht“. Und er genießt, manchmal mehr, offenbar aber meistens weniger, die Freuden seiner späten Vaterschaft. Martenstein wollte immer Kinder. Dass es nur zwei wurden, „ist dem Weitblick meiner Partnerinnen zu verdanken.“ Und der Kleine, von dem wir keinen Namen erfahren, hält ihn ganz schön auf Trab.
Umfragen und Realsatire
Nach diesem persönlich geprägten Intro schwadroniert Harald Martenstein buchstäblich über Gott und die Welt. Etwa über Umfragen, bei denen herauskommt, dass nur ein Prozent der Deutschen sich von den Atomwaffen Frankreichs bedroht fühlt, aber elf Prozent einen Krieg mit Liechtenstein für möglich halten.
Realsatire entsteht durch ein Interview mit der Umweltministerin Svenja Schulze über ihre Haltung zum Zierfisch-Verbot. Martenstein schlüpft in die Rollen des Fragenden und der Antwortenden und entlarvt gnadenlos die Worthülsen von Politikern. Ganz toll treiben es Berlinerinnen mit ihrer ernst gemeinten Forderung, feministische Sexfilme in öffentlichen Büchereien anzubieten. „Die müssen realitätsnah sein und dabei darf durchaus etwas schieflaufen“, meinen die Damen. Harald Martensteins reale Vorschläge: Ein Mann stolpert beim Entkleiden über seine Hose. Er setzt sich aufs Bett und übersieht dabei seine Brille, die zu Bruch geht.
Auch die Frage, was typisch deutsch ist, macht er zum Thema: die Führungsposition im Automobilbau und die Nacktkultur. Selbst zu einer Nackt-Lesung sei er einmal eingeladen worden, doch habe der Veranstalter im letzten Moment kalte Füße bekommen.
Und so kommt er über Schlafstörungen auf Lesereisen, über Altherrenwitze und witzige Frauen, die „so selten sind wie weibliche Vorsitzende von Angelsportvereinen“, über Geschlechtertrennung in Bussen (Ladyzonen in Pink) und ganz zum Schluss zu einem nachdenklichen Thema. Einer App, die fünfmal am Tag die Botschaft sendet: Du musst sterben. Da macht Harald Martenstein seine eigene Sterblichkeit zum Thema. Aber so, wie man ihn kennt: Nicht gedankenschwer, sondern leicht. So wie auch seine Zugabe: Die Schwerhörigkeit im Alter: „Seit ich nichts mehr hören kann, bin ich zum ersten Mal ein Mensch, der gut zuhören kann.“
Gut zugehört haben auch die Besucher, als Magnus Reitschuster aus dem Nähkästchen plauderte: „Beim Wein haben wir neue Pläne geschmiedet.“ Die Siegerländer dürfen also davon ausgehen, dass es noch einen vierten Abend mit Harald Martenstein geben wird.
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