Siegen. . Das tollMut-Theater inszeniert im Bruchwerk beeindruckend Pitigrillis Skandalroman „Kokain“. Der stand in Deutschland bis 1988 auf dem Index.

Die Verantwortlichen des tollMut Theaterensembles haben Jahr für Jahr den Mut, sich neuen künstlerischen Herausforderungen zu stellen: Nach Hauptmanns „Einsame Menschen“ in der ehemaligen Eventkneipe Lousiana, Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ im Apollo nun Pitigrillis „Kokain“ im Bruchwerk Theater in der Oberstadt.

Noch nicht gesehen? Dann aber los!

Die nächste Vorstellung ist am heutigen 23. April.

Weitere Termine: 24., 26., 27. und 29. April. Beginn ist immer um 19.30 Uhr.

Das Bruchwerk-Theater ist in der Siegbergstraße 1 – im ehemaligen Hettlage-Gebäude.

Es ist kein leichter Stoff, den die sechs Akteure auf die Bühne bringen. Denn der 1922 erschienene Roman „Kokain“ eines Italieners, der sich Pitigrilli nannte, wurde noch 1988 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften auf den Index gesetzt, weil er geeignet sei, „die Phantasie junger Menschen auf ungesunde Weise sexuell zu erregen“. Die Entscheidung der Beamten zaubert heute ein müdes Lächeln auf die Gesichter von Jugendlichen: die Bühnenadaption von „Kokain“ gelingt dem tollMut Ensemble meisterhaft.

Die Handlung

Sechs Schauspieler erzählen die Geschichte von Tito, der sich schon früh in Maddalena verliebte. Sie werden aber getrennt. Verzweifelt reist Tito nach Paris, hochstapelt sich zum Doktor und Professor und gerät in die Drogenszene.

Vor allem das gehobene Bürgertum giert nach dem weißen Pulver. Aber er selbst wird auch vom Kokain abhängig – und trifft Maddalena wieder. Die nennt sich inzwischen Maud, ist eine Edelnutte und Geliebte eines Großindustriellen und eines einflussreichen Kirchenmannes. Gleichzeitig lernt Tito eine reiche Armenierin kennen und wird ihr aktueller Liebhaber.

Er kann sich einen Wohnsitz im mondänen Hotel Napoleon leisten, bekommt eine Anstellung als Redakteur in einer renommierten Pariser Zeitung. Sein erster Auftrag ist, über die öffentliche Hinrichtung eines Jamaikaners zu schreiben. Er ist jedoch auf Speed, geht erst gar nicht hin: „Er schnupfte und schrieb. Nach zwei Stunden hatte er 30 Seiten zusammen.“

Das Problem: Die Hinrichtung hatte überhaupt nicht stattgefunden. Dennoch wurde Titos Bericht über die Exekution ein riesiger Erfolg. „Selbst der Scharfrichter glaubte schließlich daran, den Jamaikaner hingerichtet zu haben.“ Die Belohnung für Tito: Eine saftige Gehaltserhöhung. Doch als er Maud in seinem Artikel zu einer gefeierten Tänzerin hochstilisiert, die erwartungsvollen Theaterbesucher jedoch nur eine höchst mittelmäßige Nummer präsentiert bekommen, erhält er vom blamierten Chefredakteur die Kündigung.

Immerhin ist Mauds Name nun auch in Südamerika bekannt. Tito klaut der Armenierin zwei Koffer voller Gold, sie reisen nach Buenos Aires und nach Montevideo. Doch Tito, krank vom Kokainmissbrauch und Mauds Männerverschleiß, resigniert. Zurück in Paris vergiftet er sich mit einem Serum tödlicher Bazillen. Übrig bleibt Asche, weiß wie Kokain.

Die Inszenierung

Viele Versuche gab es nicht, „Kokain“ ins Theater zu holen. Sicherlich der spektakulärste stammt vom Regie-Wundermann Frank Castorf an der Berliner Volksbühne: Ein trashiger Exzess, mehr auf die Bühne gewürgt als gespielt, von der Kritik verrissen und vom Publikum gemieden. Die Siegener Inszenierung von David Penndorf im Bruchwerk braucht all den Castorf’schen Video-Schnickschnack, das Blutvergießen, die Vulkanausbrüche und die schaurigen Klistierszenen nicht.

Sie überzeugt durch kluge Einfachheit: Eine fast leere Bühne, auf der eine Kiste steht. Mal am Rand, dann wieder ganz in der Mitte. Die dient als Kleiderarsenal für die Schauspieler, Koffer für die Reise nach Südamerika und ganz am Ende als Titos Sarg. Die von der Decke herabhängenden Orgelpfeifen untermalen optisch die Orgelklänge des Abends, sind die Bleistifte beim Verfassen von Titos letztem Willen und, aber ganz dezent, als Klistier verwendbar, mit dem Scharlatane in Arztkitteln Tito zu Tode heilen.

Am meisten beeindrucken die Schauspieler. Der ständige Rollen- und Geschlechterwechsel verlangt ein Team, das auf Augenhöhe agiert. Defne Emiroglu, Anna Gustmann, Charline Kindervater, Peter Ewert, Ajas Isajew und Valentin Rocke, alles ambitionierte Amateure mit schauspielerischer Leidenschaft, verkörpern die Protagonisten mit Haut und Haaren, arbeiten deren Charaktere, Gerissenheit, erotische Verführungskunst, Zynismus und am Ende ihre Resignation höchst differenziert heraus. Ein sehenswerter Theaterabend.