Siegen. . Die Ausbildung für angehende Physiotherapeuten ist teuer, der Verdienst eher moderat. Die Politik beginnt, die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Stellenangebote gehen bei der Schule für Physiotherapie an der Leimbachstraße fast täglich ein. „Ich hänge nicht mehr alles auf“, sagt Schulleiterin Ina Acksel. Die Nachfrage nach Physiotherapeutinnen und -therapeuten ist groß und wird in einer alternden Gesellschaft weiter steigen. Dem stehen aber eine teure Ausbildung und eine recht moderate Vergütung gegenüber, die die Attraktivität des Berufs beeinträchtigen. „Es ist zwar bereits einiges besser geworden“, sagt Ina Acksel. „Aber wir sind noch nicht da, wo wir hin müssen.“

Ina Acksel, Leiterin der Schule für Physiotherapie an der Leimbachstraße in Siegen.
Ina Acksel, Leiterin der Schule für Physiotherapie an der Leimbachstraße in Siegen. © Florian Adam

Geld

Wer sich zum Physiotherapeuten ausbilden lässt, bekommt dafür kein Geld, sondern muss dafür bezahlen. Die Ausbildung wird zwar seit dem 1. September 2018 zu 70 Prozent vom Land Nordrhein-Westfalen gefördert, kostet die angehenden Fachkräfte aber immer noch rund 150 Euro pro Monat – was im Umkehrschluss bedeutet, dass vorher etwa 500 Euro zu entrichten waren. Für die Dauer von drei Jahren lief das auf rund 18.000 Euro hinaus für einen Beruf, in dem das monatliche Bruttogehalt bisher bei etwa 2000 Euro lag. „Da ist eine Entlastung passiert, weil die Politik Handlungsbedarf sah“, sagt Ina Acksel. Für das Jahr 2021/22 gehe sie sogar von einer vollständigen Kostenbefreiung aus. Auch beim Verdienst habe sich etwas getan. „Weil ein Fachkräftemangel besteht, zahlen die Kassen etwas mehr für Rezepte.“ Es sei aber „immer noch zu wenig, da sind die Kassen gefordert“. 2500 Euro brutto pro Monat seien derzeit schon „ein gutes Gehalt für einen Physiotherapeuten“.

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Anspruch

Ausbildung und Arbeitsanforderungen sind anspruchsvoll. Ina Acksel, seit 1995 staatlich anerkannte Physiotherapeutin, sieht in genau diesem Profil auch den Reiz. „Ich kenne die schönen Seiten des Berufs“, betont sie, und schildert voller Enthusiasmus eine enorme Vielseitigkeit. „Man entwickelt sich immer weiter, man übernimmt Verantwortung. Es hat eine soziale Seite und eine pädagogische, weil wir die Patienten auch anleiten. Wir leisten Hilfe, sie wieder in den Alltag zu integrieren.“ Das erfordert genaueste Kenntnisse über Aufbau und Funktionsweise des Körpers. Es gehe um physische Leistungsfähigkeit und Beweglichkeit, aber eben auch um alle psychischen Wechselwirkungen und Begleiterscheinungen, die damit verbunden seien. Manche Patienten könnten ihren Alltag nicht mehr selbstständig bewältigen, andere zögen sich zurück – und eine erfolgreiche Physiotherapie könne helfen, den Patienten neuen Lebensmut und Antrieb zu geben.

Anerkennung

„Die Anerkennung kommt durch die Patienten – weniger über den Verdienst“, sagt die Expertin. „Die Menschen sind dankbar, wenn wir ihnen helfen, ganz egal ob ältere Dame oder junger Sportler.“ Der Physiotherapeut habe einen besonderen Stellenwert, sei oft auch Berater für den Arzt. Letzterer stelle zwar die Diagnose, doch ersterer entwickele die Therapie. Und diese gehe über reine Bewegungsübungen hinaus. „Wir sind ja keine Gymnastiklehrer“, sagt Ina Acksel. „Unsere Arbeit hat einen klaren therapeutischen Aspekt. Wo muss ich den Patienten fordern, wo muss ich ihn vielleicht bremsen? Wir geben auch Anleitung zur Selbstwahrnehmung.“

Mangel stößt Veränderung an

Jürgen Weiskirch, Bezirksgeschäftsführer von Verdi Siegen-Wittgenstein/Olpe, geht ebenfalls davon aus, dass das Schulgeld für die Physiotherapeuten-Ausbildung mittelfristig komplett übernommen wird: „Das kommt noch, da bin ich sicher.“

Dass Bewegung in die Diskussion kommt, sei ähnlich einzuordnen wie bei der Bezahlung und den Arbeitsbedingungen von Erzieherinnen und Erziehern: „Es ändert sich was – wegen des Mangels.“

Auch bei den Physiotherapeuten gebe es besser dotierte Stellen. Im Öffentlichen Dienst „liegt ein Physiotherapeut bei 3500 Euro brutto“. Das treffe aber nur auf eine sehr begrenzte Zahl zu, die in Einrichtungen kirchlicher oder kommunaler Träger beschäftigt sei.

Zahlen

Fachkräftemangel besteht nach Angaben des Deutschen Verbands für Physiotherapie unter Berufung auf Daten der Bundesagentur für Arbeit deutschlandweit. Ende 2018 lag demnach die Vakanzzeit – also die Zeit, die es braucht, um eine freie Stelle zu besetzen – bei Physiotherapeuten bei 167 Tagen. Das ist fast 50 Prozent länger als auf dem Arbeitsmarkt insgesamt. Hier lag die Vakanzzeit 2018 bei 113 Tagen, zehn Jahre zuvor noch bei 63.

Bedarf

Physiotherapie wird zwar von allen Altersgruppen in Anspruch genommen, logischerweise steigt der Bedarf aber in Gesellschaften, je stärker die Zahl älterer Menschen steigt und je älter diese werden. Das Ganze hat auch eine volkswirtschaftliche Dimension, wie Ina Acksel anmerkt. Je länger Menschen einer Arbeit nachgehen sollen und je weiter das Renteneintrittsalter nach hinten verschoben wird, um so länger müssen Arbeitnehmer fit und leistungsfähig sein. „Auch da helfen Physiotherapeuten.“

Perspektiven

Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen ist seit der 70-Prozent-Förderung durch das Land gestiegen, beobachtet Ina Acksel. An ihrer Schule gibt es derzeit drei Kurse mit jeweils 20 bis 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Da eine Aufstockung um weitere Kurse im Gespräch sei, seien Bewerbungen jederzeit möglich. „Wir sind auf einem guten Weg, die Tendenz ist da“, kommentiert die Schulleiterin. „Die 70 Prozent sind ein positives Zeichen. Und nun geht’s weiter.“

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