Siegen. . Die Telefonseelsorge Hagen und Siegen konzipieren eine App für Suizid-Gefährdete. Geplanter Start ist im September 2019.

Eine App, die Leben retten soll. Was zunächst etwas befremdlich klingt, wird in den kommenden Monaten Realität. Die Hagener und die Siegener Telefonseelsorge konzipieren eine „Krisen Kompass“- App, die von einem Münsteraner Unternehmen programmiert wird. Dietrich Hoof-Greve, Leiter der Telefonseelsorge in Siegen und Promoter der App, und Bernd Wagener, Projektentwickler und stellvertretender Leiter, erklären die Funktionen und Hintergründe der App.

Eine App für Suizid-Gefährdete. Wie genau kann man sich das vorstellen?

Dietrich Hoof-Greve: Die App teilt sich in vier Bereiche auf. Einer heißt „Ich brauche jetzt direkt einen persönlichen Kontakt“. Das bedeutet, die Betroffenen kommen per Chat, Mail oder ganz klassisch über die Telefonseelsorge mit uns in Kontakt. Durch die neuen Medien bekommen wir einen neuen Zugang zu gefährdeten Personen. In diesem Bereich sind ebenso weitere Hilfsangebote zu finden. Der zweite Bereich ist beschrieben mit „Ich denke öfter an Suizid“. Dort sind dann Funktionen wie eine Tagebuchfunktion, die Lieblingsmusik oder -bilder hinterlegt. Einfach Dinge, die mich am Leben halten. Der dritte Abschnitt richtet sich an Hinterbliebene. Und der Letzte heißt „Ich kenne jemanden, der suizidgefährdet ist“. Dieser richtet sich an Personen, die sich um jemanden Sorgen machen. Dort sind Informationen und Literatur hinterlegt. Es geht generell um Verhütung, Bewahrung und Rettung.

Das heißt, an wen genau richtet sich die App?

Hoof-Greve: An Suizid-Gefährdete, an Hinterbliebene und an Personen, die jemanden kennen, der ihnen gefährdet erscheint.

Wie kommt der Name „Krisen Kompass“ zustande?

Bernd Wagener: Die App richtet sich ja an Menschen in existentiellen Krisen, das war von vornherein die Zielrichtung und entspricht dem ursprünglichen Auftrag der Telefonseelsorge. Und Kompass bedeutet Orientierung. Wir versprechen uns, dass - wenn jemand einen Tunnelblick hat - er mit der App eine neue Orientierung und einen anderen Blick bekommt.

Das Projekt ist eine Kooperation zwischen den insgesamt zehn Telefonseelsorge-Stellen in Westfalen. Woher stammt die Idee?

Hoof-Greve: Man muss wissen, dass die Telefonseelsorge ein Zusammenschluss vieler kleiner Organisationen ist. In Deutschland gibt es insgesamt 105 Stellen, die sich in Regionalgruppen aufteilen. Bei einem Zukunftstag auf der Westfalenkonferenz im Jahr 2015 entstand die Idee, die Telefonseelsorge durch eine App zu erweitern. In Deutschland gibt es zwar eine App, die sich an schwer depressive Personen richtet, aber eben nicht an Suizid-Gefährdete. Die Idee ist also neu.

Wie ging es dann nach der Geburtsstunde im Jahr 2015 weiter?

Hoof-Greve: Aus dieser Konferenz hat sich eine kleine Gruppe entwickelt, unter anderem mit Bernd Wagener. In enger Zusammenarbeit mit der Firma Synergeto aus Münster ist dann die Konzeption entstanden. Vor einem knappen halben Jahr stand man dann vor dem Geld-Problem: Durch die komplizierten Strukturen der Telefonseelsorge war man sich nicht einig, wer sich finanziell beteiligt und wer nicht. Dadurch bremste sich das Projekt erstmal aus. Aus dem Frust entstand dann die Initiative von Birgit Knatz (Hagener Telefonseelsorge), und mir. Wir haben nun die Finanzierung der App in Absprache mit der Westfalenkonferenz selbst in die Hand genommen.

Wie weit sind die aktuellen Entwicklungen?

Hoof-Greve: Also bisher ist die App nur eine super gute Idee mit einem tollen Konzept, die Realisierung steht noch aus.

Wieso? Und wann kann mit der Veröffentlichung gerechnet werden?

Hoof-Greve: Leider hängt die Realisierung vom Geld ab. Die Programmierer warten quasi auf Signale, weitermachen zu können. Es wäre ein Traum, wenn wir die App am 10. September 2019, am Welttag der Suizidprävention, veröffentlichen können.

Wie hoch sind die Kosten der Herstellung?

Hoof-Greve: Wir wollen die Qualität der App hoch und vielseitig halten, das macht es eben teuer. Wir gehen im Moment von Produktionskosten von rund 100.000 Euro aus. Es hört sich viel an, aber das ist realistisch. Wir sind fest entschlossen mehr zu sammeln, weil die App auch noch promoted und positioniert werden muss, später stehen noch Updates an. Aktuell haben wir verbindliche Zusagen in der Höhe von rund 22.000 Euro.

Wie läuft die Promotion? Gibt es viele Spender?

Hoof-Greve: Wir sprechen mit verschiedenen Clubs, Unternehmen und Banken. Birgit Knatz und ich müssen auf die Menschen zu gehen und unsere Kontakte nutzen, das ist auch schon mal „Knüppel-Arbeit“. Natürlich gehen wir auch über die sozialen Medien. Die Idee wird aber von allen ziemlich gut angenommen. Unter anderem weiß auch Jens Spahn von der App. Allerdings hat das Bundesgesundheitsministerium gesagt, dass sie die App selbst nicht finanzieren können, da es außerhalb des Förderrahmens liege. Aber sie würden in Zusammenarbeit mit einer Uni ein Forschungsprojekt, zum Beispiel über die Auswirkung der App, unterstützen.

Kostet die App Geld?

Hoof-Greve: Nein, die App wird kostenfrei und sowohl offline als auch online verfügbar sein. Zudem wird die App für die gängigen Systeme Android und Apple-Geräte konzipiert.

Wie wichtig ist die Investition in die App?

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Hoof-Greve: Unser fester Grundsatz und meine Überzeugung ist, wenn durch diese App ein einzelner Mensch gerettet und vom Suizid abgehalten wird, dann hat sich die Investition gelohnt. Denn alle 53 Minuten bringt sich in Deutschland jemand um. Wir erleben es aber jeden Tag, dass sich Menschen mit genau diesem Thema im Chat oder in der Mail an uns wenden.

Wagener: Wir bekommen bundesweit alleine per Mail etwas mehr als 100 Anfragen pro Tag. Aus einer Anfrage entsteht in der Regel ein langfristiger Kontakt.

Meinen Sie, dass es durch die App weniger Suizid geben wird?

Hoof-Greve: Unsere Arbeit basiert viel auf Glauben, nicht unbedingt auf dem klassischen kirchlichen Glauben, sondern auf Vertrauen. Und die Reichweite mit so einer App ist nun mal enorm. Wir wissen nur eins: Das Verschweigen des Themas ist für die Betroffenen katastrophal.

Also hilft die Anonymität der Medien bei dem Thema?

Hoof-Greve: Auf jeden Fall. Die Anonymität des digitalen Bereichs bietet Schutz, und man kann sich noch radikaler öffnen. Die Betroffenen können ihren Druck loswerden, ohne dabei direkt in die Mangel genommen zu werden, oder fürchten zu müssen, in die Psychiatrie zwangseingewiesen zu werden.

Wenn ich über den Chat Kontakt mit Ihnen aufnehmen würde, mit wem spreche ich dann?

Hoof-Greve: Man spricht mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin, der oder die eine eineinhalbjährige Ausbildung zum Telefonseelsorger und die Chat-Ausbildung absolviert hat. Bei uns landen nur Anrufer aus Meschede, Paderborn, Hamm und Siegen.

Was sieht die Zukunft aus?

Hoof-Greve: Die App soll früher oder später in die ganze Telefonseelsorge-Landschaft eingebunden sein.