Siegen. . Wissenschaftler der Uni Siegen entwickeln Konzepte für die medizinische Versorgung der Zukunft. Das Ziel: Länger und besser selbstbestimmt leben.
Sterben muss zwar jeder irgendwann; aber durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht sich ein grundlegender Unwille gegen die Vorstellung. Von religiösen Riten über Zauberei bis zur Wissenschaft suchten die Menschen seit jeher nach Möglichkeiten, den Tod zu überlisten. Mittlerweile gibt es vor allem in der Science Fiction auch die Idee, das Altern durch Manipulation des Genoms aufzuhalten oder Bewusstsein zu digitalisieren und so zu erhalten. In der Realität beschäftigen sich Wissenschaftler der Uni Siegen ernsthaft mit dem Thema – aber es geht nicht um die Abschaffung des Todes, sondern um die Verlängerung des lebenswerten Lebens durch eine optimierte Gesundheitsversorgung.
„Wir versuchen erst einmal, den Status quo zu halten – und in einem zweiten Schritt, etwas besser zu machen.“ Dr. med. Charles Christian Adarkwah, Lehrstuhl für Versorgungsforschung an der Lebenswissenschaftlichen Fakultät in Siegen und praktizierender Hausarzt in Kreuztal, bremst allzu euphorischen Utopie-Überschwang. Gerade der ländliche Raum stehe vor der sehr gegenwärtigem Problemkombination aus Ärztemangel, einer steigenden Zahl älterer Menschen und einer sinkenden Besiedelungsdichte. In Siegen-Wittgenstein beispielsweise geht mehr als die Hälfte der über 55-jährigen Hausärzte nicht davon aus, noch einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin für die Praxis zu finden. Immer weniger Ärzte werden deshalb in der Zukunft in immer größeren Gebieten für immer mehr Patienten zuständig sein, die aufgrund fortgeschrittenen Alters mehr medizinische Betreuung brauchen.
„Wenn wir die Standards in der medizinischen Versorgung über Menschen nicht einlösen können: Können wir es dann über digitale Hilfestellung machen?“ Dr. Olaf Gaus ist Geschäftsführer des Fokos, also des Forschungskollegs Siegen der Universität. Die Einrichtung befasst sich zentral mit dem Thema Digitalisierung, auch im Hinblick auf den Gesundheitssektor. Kommunikation und Interaktion zwischen dem Fachpersonal und den Patienten seien die grundsätzliche Ebene der medizinischen Versorgung. Beides werde in Zukunft auch über digitale Kanäle laufen müssen. Und um herauszufinden, wie das gelingen kann, „dazu müssen wir Leute aus der Praxis fragen.“ Das schließt Ärzte und andere beteiligte Berufsgruppen genauso ein wie die Patienten.
„Ich merke im Alltag mit Patienten, dass wir sehr vorsichtig sein müssen. Es gibt viele Ängste vor Veränderungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung – und eine Kluft zwischen dem, was man bereits machen kann und dem, was akzeptiert wird.“ Charles Christian Adarkwah skizziert für die Medizin der Zukunft kein Szenario, in dem Patienten nur noch von Maschinen versorgt werden und nie einen Arzt aus Fleisch und Blut zu sehen bekommen. Stattdessen entwirft er ein Bild, in dem die Ärzte von manchen Aufgaben entlastet werden und so „mehr Zeit haben für das persönliche Gespräch, für Dinge, die wirklich wichtig sind“. Telemedizin, also die Sprechstunde per Videochat, gehört zu diesen Entlastungsmöglichkeiten dazu, ebenso Geräte, die Vitaldaten erfassen, Puls, Blutdruck, Blutzucker, Sauerstoffgehalt des Blutes messen und die Werte über die Distanz an den Arzt übermitteln. Den Patienten erspart das lange Wege in die Praxis – oder einen Wegzug aus der vertrauten Umgebung, um den Wohnort in die Nähe einer Arztpraxis zu verlegen. Notfälle oder Situationen, in denen die physische Begegnung mit dem Arzt unumgänglich ist, sind davon natürlich ausgenommen.
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„Das Ganze wird patientenzentriert gesehen, so wie Hausärzte ihre Arbeit patientenzentriert sehen. Das Delegationsmodell spielt dabei eine immer größere Rolle.“ Näpas – nicht-ärztliche Praxisassistentinnen und -assistenten – werden laut Olaf Gaus in der Zukunft eine sehr wichtige Funktion übernehmen. Das Fokos und die Lebenswissenschaftliche Fakultät bereiten derzeit ein Projekt mit dem Kreis Altenkirchen vor, um die Einsatzmöglichkeiten von und die Ansprüche an Näpas zu erforschen. Als besonders qualifizierte Fachangestellte der Arztpraxen suchen diese die Patienten auf, messen beispielsweise Vitaldaten und nehmen unter Supervision des Arztes – den sie auch live zuschalten können – Untersuchungen vor. Der Arzt kann darauf direkt oder zu einem späteren Zeitpunkt zugreifen, Diagnosen stellen und Therapien empfehlen. Näpas sind auch Ansprechpartner und persönliche Kontakte, die den Patienten unmittelbar zur Seite stehen.
„Wenn sich zeigt, dass sich durch Näpas und Digitalisierung die medizinische Versorgung verbessern lässt, dann wird das langfristig auch zu einer empfundenen Verbesserung für die Patienten führen.“ Es sei keine Revolution, mit der sich die Dinge schlagartig ändern, ist Charles Christian Adarkwah überzeugt, sondern ein schrittweiser Prozess. Wer sich mit Veränderungen schwer tue, werde es vielleicht als Verschlechterung wahrnehmen; wer mit digitaler Technik vertraut sei, werde eine Verbesserung sehen. Das sei nicht unbedingt eine Altersfrage, betont der Arzt. Er kenne viele Menschen jenseits der 70, die mit völliger Selbstverständlichkeit Dienste wie Whatsapp nutzen oder E-Mails in seine Praxis schicken.
„Wir sind noch in einem frühen Stadium. Wir versuchen, die bestehende Technik in der Praxis zu erproben. Wir müssen den Beweis erbringen, dass das Konzept funktioniert.“ Die Entscheidung, was letztlich flächendeckend eingeführt und umgesetzt wird, werden andere Stellen treffen, sagt Olaf Gaus. Die Wissenschaft liefert die Modelle, aber Politik und Krankenkassen müssen die Weichen stellen. „Es ist im Moment ein Experiment.“
„Lebensqualität ist der entscheidende Faktor.“ Ausschalten können die Siegener Wissenschaftler den Tod nicht. Doch Charles Christian Adarkwah und Olaf Gaus eröffnen für die Zukunft den Ausblick auf eine bessere medizinische Versorgung auch in ländlichen Gebieten und Chancen auf ein längeres selbstbestimmtes Leben mit mehr Wohlbefinden. Der Tod wird nicht überlistet – aber das gute Leben verlängert.