Siegen. . Ludwig Burwitz ist der vierte Stadtarchivar Siegens, das Krönchen-Center ist das vierte Domizil des Archivs. Am 31. März geht er in den Ruhestand.

Ludwig Burwitz ist Leiter des Stadtarchivs Siegen. Am 31. März geht er in den Ruhestand. Mit ihm sprach Steffen Schwab über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Am 29. März ist Ihr letzter Arbeitstag, am 1. April tritt Ihr Nachfolger seinen Dienst an: Dr. Patrick Sturm kommt vom Stadtarchiv Pforzheim. Was erwartet ihn in Siegen?

Ludwig Burwitz: Alle kommunalen Archive leiden unter Personalmangel. Wir haben wesentlich mehr Aufgaben, als wir erledigen können. Die unerledigten Aufgaben schieben wir als Bugwelle vor uns her. Es kommt immer darauf an, wo man die Prioritäten setzt. Seit wir im Krönchen-Center sind, haben wir den Fokus sehr auf Öffentlichkeitsarbeit gelegt. Viele unserer Kernaufgaben, das heißt: das Erfassen von Akten, mussten wir zwangsläufig etwas vernachlässigen.

Zur Person

Ludwig Burwitz, 65, arbeitet seit 1992 im Siegener Stadtarchiv. Archivleiter ist er seit 2001. Sein Nachfolger wird Dr. Patrick Sturm; er ist derzeit noch stellvertretender Leiter des Stadtarchivs Pforzheim.

Nach dem Abi am Löhrtor-Gymnasium hat der gebürtige Weidenauer in Münster Geschichte, Germanistik und Sozialwissenschaften studiert.

Auch vor meiner Zeit schon – denn Friedhelm Menk, mein Vorgänger, war die meiste Zeit Einzelarbeiter. Am 1. Oktober 1992 kam ich als sein Stellvertreter dazu. Von da an haben wir eine ganze Menge an Erfassung von Akten geschafft. Nachdem wir hier oben ihm Krönchen-Center angekommen sind, haben wir unheimlich viele Benutzer gewonnen; auch dadurch ist sehr viel Arbeitszeit absorbiert worden.

Wie groß ist ihr Team jetzt?

Wir sind sieben, darunter drei Hilfskräfte auf zwei Stellen und vier Fachkräfte: zwei Archivare, eine Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, abgekürzt FaMI, Fachrichtung Archiv, früher hieß das Archivassistentin, und einen Bibliotheksassistenten.

Mehr als früher.

Sie argumentieren, als ob Sie in der Personalabteilung der Stadt arbeiteten. Die Ansprüche an Qualität und Quantität unserer Arbeit sind aber auch um ein Mehrfaches gestiegen.

Wie kam es zu der Entscheidung, einen Schwerpunkt auf die Öffentlichkeitsarbeit zu setzen?

Nach dem Einzug ins Krönchen-Center sollten wir raus aus dem so genannten Elfenbeinturm, das Archiv sollte in die Öffentlichkeit gebracht werden, sich neue Zielgruppen erschließen: Ausstellungen, Vorträge und mehr. Das ging zu Lasten anderer Aufgaben.

Was ist denn wichtiger?

Für den Archivar sind die Basics das Wichtigere, die Übernahme und Verzeichnung der Akten. Deswegen kommen die Leute ja zu uns: Sie wollen historische Informationen bekommen. Wenn wir ihnen irgendwann keine neuen Akten, keine neuen historischen Informationen als Forschungsgrundlage mehr präsentieren können, ist das Archiv tot – dann kommt auch keiner mehr. Wir können uns nicht nur Akten in die Regale stellen. Sie müssen erschlossen sein, damit die Leute wissen, womit sie arbeiten können. In den ersten Jahren hatten wir immer jährlich zwischen 2300 und 2400 Nutzer, jetzt sind es 1900.

Sind das alles Leute, die im Archiv das suchen, was eigentlich ins Archiv gehört: also Verwaltungsakten? Oder suchen die nicht nach lokaler Geschichte, nach den anderen Sammlungen, die Sie eigentlich gar nicht haben müssten?

Die suchen nach Informationen aus den Akten der Stadt Siegen. 2009 gab es zum Beispiel eine Gesetzesänderung im Personenstandswesen, die Personenstandsregister sind jetzt Archivgut. Jetzt kommen die Familienforscher zu uns. Und nicht nur die. Wir haben pro Tag zwei bis drei Anfragen von Nachlassgerichten.

Ludwig Burwitz, Stadtarchivar
Ludwig Burwitz, Stadtarchivar © Steffen Schwab

Gefragt wird alles, was man sich im menschlichen Leben vorstellen kann. Jemand wollte zum Beispiel wissen, was früher auf dem Grundstück war, auf dem sein Haus steht – nachdem er begonnen hatte, den Garten umzugraben: Es war eine ehemalige Tankstelle, der Boden war verseucht. Menschen wollen wissen, wer ihre Eltern sind – Adoptivkinder, die nur wissen, dass sie in Siegen geboren wurden. Wir hatten hier das Hauptdurchgangslager Wellersberg. Da sind viele Kinder von ihren Eltern verlassen worden. Und dann gibt es alle die, die aus einem wissenschaftlichen Interesse zu uns kommen: von der Uni, Schüler, die Facharbeiten schreiben oder Referate vorbereiten, die Bergbaufreunde kommen.

Was ja eigentlich ein Gebiet ist, für das Sie nicht zuständig sind.

Das müssten wir nicht haben. Trotzdem haben wir einiges zum Bergbau, Karten und Pläne, auf denen man alte Bergwerke, Schächte identifizieren kann. Als sich der Tagesbruch auf dem Rosterberg ereignete, sind selbst die Leute vom Bergamt hier gewesen, weil sie selbst kaum Unterlagen hatten. Und wenn der Archäologe am Unteren Schloss gräbt, kommt er im Laufe der Zeit auch zu uns, um sich über weitergehende Aspekte zur Baugeschichte des Unteren Schlosses zu informieren.

Die ja eigentlich in die Staatsarchive gehören.

Zum Teil nach Wiesbaden, zum Teil nach Münster oder, wenn es aus der Familienschatulle bezahlt wurde, nach Den Haag.

Also doch: Das Reizvolle ist das, was Sie gar nicht haben müssten.

Das ist nicht unsere gesetzliche Aufgabe, aber das haben sich alle Archive auf die Fahnen geschrieben, dass sie natürlich alles, was sie zur Geschichte ihrer Stadt an Land ziehen können, auch einsammeln. Dafür sind wir auch Historiker. Wir wissen, dass das für die Leute reizvoll ist. Wir haben große Bestände aus privatem Besitz, Nachlässe von Persönlichkeiten, Firmen und Vereinen. Aber das Gerüst der Überlieferung ist die Verwaltung.

Wenn man sammelt, was man kriegen kann: Wie lange reicht dafür der Platz?

Wir sind ja kein Großstadtarchiv. Wir kommen aus kleinen Anfängen. Wobei die Überlieferung in Siegen, gemessen an anderen Städten, außerordentlich ist. Wir übernehmen aber nicht alles, nur einen Bruchteil. Unsere vornehmste Aufgabe ist zu entscheiden, was vernichtet werden kann. In unserem Magazin haben wir derzeit mehr als 3000 laufende Meter an Akten, je Meter neun Kartons, alles hier auf der Etage. Wir haben ein Archiv der kurzen Wege. Früher, als wir noch in der Oranienstraße waren, hatten wir ein Depot in Kaan-Marienborn.

Und nun kommen die digitalen Akten.

Wir arbeiten an der digitalen Langzeitarchivierung. Die Archive gehen ganz neue Wege. Diejenigen, auf die wir in der Kooperation angewiesen sind, sehen noch nicht so ganz die Notwendigkeit der schnellen Umsetzung. Wir sind allerdings von der Kooperationsbereitschaft vieler Beteiligter abhängig.

In der Praxis wird es dann kompliziert.

Zum Beispiel müssen im Bürgerbüro bestimmte Meldedaten nach zehn Jahren gelöscht werden. So will es das Meldegesetz. Das Archivgesetz sagt aber, dass uns die Daten angeboten werden müssen. Die Verknüpfungen von Daten, die gelöscht sind, müssen also später wieder zusammengeführt werden können.

Und wenn das nicht funktioniert, haben Sie ein Problem.

Deswegen raten wir, uns rechtzeitig einzubeziehen. Das betrifft auch das Personenstandswesen. Die Standesämter verwenden Online-Verfahren. Wenn heute eine Änderung in einem Heiratsregister von, zum Beispiel, 1938 vorgenommen wird, ein Name geändert wird, erfolgt die Änderung nur digital. Wir sind aber noch nicht in der Lage, diese Daten digital zu übernehmen.

Das hört sich nicht gut an.

Ja, wir leben in Zeiten tiefgreifender Umbrüche. Man kann das aber auch spannend nennen. Es ist an der Zeit, darauf zu achten, dass nichts verloren geht. Digitale Langzeitarchivierung ist eines der Lieblingsthemen meines Nachfolgers.

Wechseln wir doch mal das Thema: Wie sind Sie eigentlich Archivar geworden?

Ich bin gebürtiger Weidenauer, habe am Löhrtor Abitur gemacht, habe in Münster Geschichte, Germanistik und Sozialwissenschaften studiert, wurde, wie es sich in den 1970er Jahren gehörte, als Lehrer 1982 nach dem Referendardienst zwangsläufig arbeitslos. Ich habe an Volkshochschulen, an der Bundeswehrfachschule gelehrt, habe in England unterrichtet und schließlich eine ABM-Stelle im Stadtarchiv Bocholt angenommen und eine Fortbildung in Köln zum Wirtschaftsarchivar gemacht. Wie es der Zufall dann so wollte, schrieb meine Heimatstadt die Stelle des stellvertretenden Archivleiters aus – meine Mutter hat mir die Zeitungsanzeige nach Münster geschickt, ich habe mich beworben, und so kam ich am 1. Oktober 1992 nach Siegen zurück.

Lokale Geschichte war dann eigentlich nicht von Anfang an Ihr Thema.

Wenig. Auf dem Löhrtor-Gymnasium hat uns Herr Thiemann zwar sehr viel über den Nationalsozialismus hier in der Region vermittelt. Als Historiker habe ich mich vor allem mit europäischer Geschichte befasst.

Heimatgeschichte galt damals wohl auch noch als ein bisschen verstaubt.

Jürgen Schawacht, der Museumsleiter, und seine Kollegen an der Uni und seine Studenten waren gerade dabei, den Staubschleier zu entfernen. Damals ist auch die Geschichtswerkstatt entstanden.

Wie haben Sie denn den Zugang dazu gefunden?

Wenn man historisch interessiert ist, fängt einen die lokale Geschichte schnell ein. Hier spiegelt sich alles, was in der großen Geschichte passiert. Ich bin hier aufgewachsen, vieles war mir schon vertraut: warum Siegen zwei Schlösser hat, wusste ich natürlich. Anderes geht recht schnell, weil Sie jeden Tag gefordert sind: wenn ein Benutzer zum Beispiel wissen will, warum die Sandstraße Sandstraße heißt. Das war übrigens ein Lehrer, der eine Schülerfrage beantworten wollte. Was früher sehr oft vorkam.

Die Sandstraße?

Ganz einfach: Zwischen der Sieg und dem damals noch existierenden Mühlenweiher war Schwemmgebiet. Das hieß „Auf‘m Sand“. Dann will jemand etwas über die Stadtmauer, ein anderer über die Textilfabrik Dresler wissen. Sie wissen morgens nicht, was am Tag auf einen zukommt. Ich fand das immer sehr spannend, mich in solche Themen einzuarbeiten. Landesherrschaft, Nassauer, Oranier – das war allerdings nicht mein Ding.

Sondern?

Bevölkerungsgeschichte, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte. Was mich am meisten interessiert hat, ist die Zeit von 1900 bis in die 1950er Jahre. Und die Bevölkerungsentwicklung im 19. Jahrhundert: Das ist schon fantastisch, was sich damals in Siegen abgespielt hat.

Das Stadtarchiv ist gewachsen, populär geworden. Sie selbst haben mit der Geschichtswerkstatt ein weiteres Standbein gefunden.

Der Siegener Historiker Bernd Plaum hatte mich irgendwann gefragt, was wir daraus machen könnten. Als Ende der 1980er Jahre die Karstadt-Tiefgarage gebaut wurde, haben Archäologen dort am Unteren Schloss gegraben. Einer von ihnen suchte eine Möglichkeit, die Erkenntnisse zu veröffentlichen. Daraufhin haben wir die Siegener Beiträge gegründet, das erste Heft erschien zur Eröffnung der Ausstellung des Siegerlandmuseums über die Ausgrabungen. Die Auflage von 1000 Stück war innerhalb von zwei, drei Monaten vergriffen. Das war bis heute unser größter Erfolg. Von da an war das ein Selbstläufer.

Sie haben damit lokale Geschichte populär gemacht, auch für jüngere Leute.

Damals. Heute werden die Siegener Beiträge nicht mehr von Leuten unter 30 gekauft. Es gibt deshalb Überlegungen, die Siegener Beiträge nur noch im Internet zu veröffentlichen. Wir würden dadurch allerdings Kunden verlieren, die Wert auf das gedruckte Heft legen. Ich persönlich sehe das auch so.

Was machen Sie im Ruhestand?

Sehen Sie sich meinen Schreibtisch an, darauf liegt noch genug Arbeit: Ich habe mir darüber noch keine Gedanken gemacht. Ich werde bestimmt mehrmals in der Woche ins Archiv kommen. Es gibt genügend Themen, die noch unbearbeitet sind: Wir sind gerade sehr aktiv am Thema „1968“; wir werden dazu für die Siegener Beiträge einen Beitrag von einem damaligen Schüler bekommen, der seit dem Schülerstreik am Mädchengymnasium Tagebuch führt. Mir war ganz neu, dass es im Juni 1967 schon eine Demonstration in Siegen zum Tod von Benno Ohnesorg gegeben hat. Was mich auch sehr reizt, ist das Jahr 1919 und die ersten demokratischen Wahlen. Und natürlich das eine oder andere Thema aus dem 19. Jahrhundert – und ich stehe immer noch im Wort, eine umfassende Publikation zum Gruftenweg auf dem Lindenbergfriedhof abzuschließen.

Was wird denn in Zukunft aus den Archiven im Siegerland?

Es ist schwer. Wir haben ein gut funktionierendes Kreisarchiv. Den Weg des Siegener Stadtarchivs sehe ich positiv. Es gibt Kreuztal und Bad Berleburg. In Hilchenbach ist Reinhard Gämlich weg, der über Jahre tolle Arbeit geleistet hat. Die Zukunft des Stadtarchivs Freudenberg ist für mich unklar. Und dann wird es ringsherum, bis auf Burbach, ganz mau. Wie viele Netphener Bürger kommen zu uns? Die ganzen Ortsgeschichten, die gerade dort erscheinen, sind ohne das Stadtarchiv Siegen nicht zu machen. Wir haben das größte Zeitungsarchiv weit und breit. Wenn wir bei der Digitalisierung unserer Gesellschaft nicht aufpassen, rutschen wir in eine geschichtslose Zeit. Informationen gehen verloren, die nicht mehr zurückzubekommen sind.

Archiv-Schatz: Ein Adeliger und zwei Könige 

„Wir Friedrich von Gottes Gnaden, König von Preußen...“: So beginnt die mehrseitige Urkunde, die den Siegener Reichstagsabgeordneten und zeitweiligen Minister Heinrich von Achenbach in den Adelsstand erhebt. „In Vertretung Seiner Majestät des Königs, Wilhelm, Kronprinz“ – das ist die Unterschrift auf der letzten Seite.

Ein Adelspatent, das zwei Könige im Dreikaiserjahr 1888 unterschreiben, als Friedrich III bereits zu schwach ist und Wilhelm II sich dem Thron nähert: „So etwas hat nicht jedes Archiv“, sagt Ludwig Burwitz. Das Familienarchiv Achenbach ist eines von drei Familienarchiven, die neben weiteren privaten Nachlässen und den Archiven von Firmen und Vereinen dem Archiv anvertraut wurden.

Alle Abi-Arbeiten vom Löhrtor

Das Magazin im Dachgeschoss des Krönchen-Center war einst das über dem Restaurant gelegene Lager des Kaufhofs: In großen Lastenaufzügen wurden die Waren hier herauf- und dann wieder herunter in die einzelnen Abteilungen befördert. Auf drei laufenden Kilometern werden Akten, darüber hinaus Zeitungsbände sowie Plakate und (Land-)Karten aufbewahrt. „Da sind einige Schätze bei“, sagt Burwitz. Und ganz viel, was berufliche Laufbahnen mitentscheiden kann: Das Stadtarchiv hat die Abiturzeugnisse der städtischen Gymnasien. „Die Leute, die danach fragen, werden immer jünger“ — soll heißen: Es braucht anscheinend weder Feuer noch Hochwasser, um so ein wichtiges Dokument zu verlegen oder zu verlieren. Aber wenn man dann schon mal da ist: „Wir haben sämtliche Abiturarbeiten vom Löhrtor seit 1975...“

Vierte Station, vierter Archivar

Das erste hauptamtlich geleitetete Stadtarchiv wurde 1929 im Rathaus eingerichtet. 1939 erfolgt der Umzug ins Obere Schloss, wo 1954 nach Beseitigung der Kriegsschäden auch die Wiedereröffnung stattfand. 1981 ging es in die Oranienstraße, 2007 ins Krönchen-Center. Ludwig Burwitz ist erst der vierte Stadtarchivar nach Dr. Hans Kruse, Dr. Wilhelm Güthling und Friedhelm Menk.