Netphen/Dreis-Tiefenbach.. „Man kann diese Bilder nicht löschen“: Viele Einsatzkräfte bekommen Schlimmes zu sehen. Die Feuerwehrleute Mark Liska und Thomas Weis erzählen.


Feuerwehrleute sehen Dinge, die sie am liebsten nicht sehen würden. Ihr Job ist es, Menschenleben zu retten. Nicht immer gelingt das. Nicht, weil Fehler passieren; manche Verletzungen sind einfach zu schwer. Trotzdem bleibt oft die Frage: Habe ich alles richtig gemacht? Hätte das Opfer überleben können? Alle Feuerwehrleute im Kreis Siegen-Wittgenstein können sich in solchen Fällen an die Psychosoziale Unterstützung (PSU) wenden – und nicht erst dann: 80 bis 90 Prozent der Fälle, schätzt PSU-Leiter Karl-Heinz Richter (siehe unten), haben nichts mit Einsätzen zu tun, sondern mit privaten Problemen. Prävention, dass die Feuerwehrleute den Kopf frei haben für ihre schweren Aufgaben, ist mindestens genauso wichtig wie grausame Bilder zu verarbeiten

Die ersten Toten

Mark Liska erinnert sich noch an seinen ersten Toten. Ein Verkehrsunfall, er war gerade 18 geworden, in die aktive Feuerwehr eingestiegen. Zwischen Netphen und Dreis-Tiefenbach war eine Familie in ihrem Wagen von der Straße abgekommen und in die Bäume gerast. Liska war hinten geblieben, als er an die Einsatzstelle kam, lag die 17-jährige Tochter abgedeckt am Straßenrand. „Gerade als ich vorbeilief, schlug ein Arzt oder ein Polizist die Decke zurück“, erzählt er. Liska, heute stv. Einheitsführer der Freiwilligen Feuerwehr Netphen, fährt oft an dieser Stelle vorbei. Das Geschehen ist immer präsent.

Thomas Weis war lange im Rettungsdienst. „Da kommen wir auch zu vielen Menschen, die eines natürlichen Todes gestorben sind“, sagt der Einheitsführer der Dreis-Tiefenbacher Feuerwehr. „Da kann man sich irgendwie drauf einstellen. Vielleicht war es für diese Menschen an der Zeit.“ Über Tote bei Unfällen habe er lange nicht weiter nachgedacht. Aber wenn man dann Unfälle erlebe wie der, bei dem auf dem HTS-Zubringer eine junge Frau unter einen Lkw fuhr und er mit seinen Kameraden eine halbe Stunde lang die Leiche aus dem Auto befreien mussten – „da hätte ich mal besser mit jemandem drüber geredet.“ Jeden Morgen fährt Weis dort vorbei und denkt: „Das PSU-Team ist eine gute Sache.“

Mark Liska.
Mark Liska. © Unbekannt | WP

Heute gibt es eine Nachbesprechung, nach jedem Unfall. Liska und Weis trommeln dann ihre Leute zusammen, sprechen darüber, beobachten in den folgenden Tagen und Wochen die Kameraden, vor allem die jungen, unerfahreneren. „Gewöhnen wird man sich da nie dran“, sagt Liska. „Wir wollen uns auch nicht daran gewöhnen. Man muss sich Gedanken machen.“ Eine Woche, schätzt er, beschäftigt er sich nach schweren Vorfällen damit. Dann: abhaken, aber nicht vergessen. Während Liskas Ausbildung sei er nicht auf so etwas vorbereitet worden. „Gott sei Dank gibt es heute das PSU-Team hier im Kreis.“





Die erste Bitte um Hilfe

Niemand hätte damit gerechnet. Der Kamerad war beliebt, ein netter Kerl. Im Netphener Feuerwehrgerätehaus beging er Selbstmord, einige Jahre ist das her. Alle Kameraden standen unter Schock. Jeden Tag sahen sie den Ort, wo es passiert war. „Das PSU-Team hat uns da durch geholfen“, sagt Liska. Mehrere Wochen wurde der Löschzug betreut, „da haben wir gemerkt, was die leisten können.“ Der Zusammenhalt in der Gruppe gab ihnen Kraft. „Die Kameradschaft in der Einheit ist wichtig, das kann über so etwas hinweghelfen.“ Feiern, Kameradschaftsabende sind wichtig, stärken die Einheit.

Ähnlich war es für Thomas Weis: Ein junger Feuerwehrmann nahm sich das Leben, alle kannten und schätzten ihn. „Das PSU-Team hat das wunderbar gemacht“, sagt Weis. Ohne die PSU hätten die Gedanken an den Toten die Kameraden noch stärker belastet. Vielleicht auch während der nächsten Einsätze.

Die PSU

Thomas Weis.
Thomas Weis. © Unbekannt | WP

Die Bedeutung der PSU für die Einsatzkräfte kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Es sind Fälle wie der eines jungen Motorradfahrers, der in ein Auto krachte, in dessen Motorraum eingeklemmt war, der noch an der Einsatzstelle starb, die belastend sind, über die man mit jemandem sprechen muss. Mark Liska redet auch mit seiner Familie darüber. Bei dem Motorradfahrer waren es grausame Bilder, die er verarbeiten musste. „In dem Moment funktioniert man erst einmal“, erzählt er. „Die Bilder kann man nicht löschen. Aber sie kommen nicht regelmäßig wieder. „Ich bin froh, dass ich nicht nachts wach werde und das wieder vor Augen habe.“





Aber es ist vor allem die Prävention, die wichtig ist.

Mark Liska ist auch in der Ausbildung tätig. Bei Lehrgängen verteilt er gleich am Anfang Flyer der PSU. „Ich versuche zu vermitteln: Was wir hier lernen, kann über Leben und Tod entscheiden“, sagt er. Früher oder später werden die Kameraden mit dem Thema Tod konfrontiert. „Es ist kein Zeichen von Schwäche, sich nach so einem Einsatz Hilfe zu holen“, sagt Liska-

Gerade bei der Freiwilligen Feuerwehr stehe man unter Druck, meint Thomas Weis. „Man hat immer gerade etwas liegen lassen, um zum Einsatz zu fahren. Alle müssen zurück zur Arbeit oder zur Familie. Trotzdem ist es besser, sich die Zeit zu nehmen und nochmal drüber zu reden.“ Die Kameraden sollen wirklich den Kopf freihaben für ihre Arbeit, fürs Lebenretten. Jede private Belastung kann zu Fehlern im Einsatz führen. „Es ist ein Unterschied, ob wir alles Menschenmögliche gegeben haben und jemanden nicht retten konnten. Oder ob man wirklich einen Fehler macht“, sagt Thomas Weis.

Mark Liska hatte, schon vor mehr als 20 Jahren, einmal einen Einsatz, bei dem eine schwer verletzte Person aus dem Auto befreit werden musste. Es dauerte, das Dach zu entfernen, das Auto war massiv, die Rettungsschere alt. Da habe er nachher schon überlegt, ob es sein Fehler gewesen sei. Liska suchte das Gespräch mit den Kameraden – kein Feuerwehrmann arbeitet allein, sie funktionieren nur als Team. Sie hatten alles richtig gemacht. Die Rettungsschere war einfach zu alt. Sie hatten alles Menschenmögliche getan, um das Opfer zu retten.

PSU-Leiter Karl-Heinz Richter: „Wir greifen vor dem Einsatz an“

2003 wurde die Psychosoziale Unterstützung (PSU) in Siegen gegründet. Teamleiter und Gründer Karl-Heinz Richter hatte 2002 eine entsprechende Ausbildung absolviert, das Angebot galt zunächst für die Berufsfeuerwehr Siegen und die Werksfeuerwehr der Edelstahlwerke. In der Folge fragte das DRK an, ob das PSU-Team auch für sie arbeiten könne, die Arbeit wurden bei den Feuerwehren im Kreis bekannter. Es wurde entschieden, dass statt in jeder Feuerwehr ein eigenes Team zu gründen die PSU Siegen für den ganzen Kreis zuständig ist.

Der hauptamtliche Feuerwehrmann Richter arbeitet inzwischen mit 30 Prozent seiner Stelle für die PSU. „In 45 Jahren bei der Feuerwehr habe auch ich einiges erlebt“, sagt er – für ihn eine große Motivation zur Gründung. Es sei oft schwer Belastungen mit sich selbst auszumachen. „Hätte ich ein schwerkrankes Familienmitglied zu Hause gehabt, ich wüsste nicht, ob ich im Einsatz fokussiert gewesen wäre“, meint Richter. Wer Belastendes mitbringe, für den könne ein schwieriger Einsatz der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringe. „Wir greifen sozusagen vor dem Einsatz an, um die Leute zu stabilisieren.“


5300
Einsatzkräfte, Feuerwehr, THW, Hilfsorganisationen, sind in Siegen-Wittgenstein tätig; sie alle, auch von Kinder- und Jugendorganisationen, können sich anonym, bei absoluter Verschwiegenheit und jenseits des Dienstwegs an das 13-köpfige PSU-Team wenden – oder die Einsatzleiter bitten die PSU hinzu. Die Mitarbeiter sind selbst Feuerwehrleute, haben die 110-Stunden-Ausbildung zum PSU-Assistenten absolviert. „Jeder soll wissen: Es gibt Kollegen, die sind für sie da“, betont Richter.


200
Gespräche pro Jahr, im Schnitt etwa eine Stunde, führen die Teammitglieder, die inklusive Fortbildung und Supervision rund 1400 Stunden im Jahr für die PSU aufwenden. „Tendenz steigend“, sagt Karl-Heinz Richter.