Buchen. . Die Siegenerin Lorén Uceda Camacho wird 2013 von ihrem Ex-Freund mit einem Deko-Schwert erstochen. Jetzt hat ihre Mutter ein Buch geschrieben.

José Angel Uceda Camacho hat kein Auto. Wenn er eins braucht, leiht er sich den Wagen seiner Tochter Lorén. Im Innenraum liegen ihre Haarspangen, ihr Schal von Real Madrid, ihr Brillenputztuch. Er fragt sie: „Kann ich heute dein Auto haben?“ Lorén ist seit sechs Jahren tot. „Lorén ist immer da. Immer da“, sagt José Angel Uceda Camacho leise. Seine Frau, Charlotte Uceda Camacho, hat ein Buch über ihre Tochter geschrieben. Über ihr Leben, über ihren Tod und über die Zeit danach, die nie enden wird. „Lorén“ heißt es und ihre Mutter möchte damit das Andenken ihrer Tochter bewahren.

Rückblende: In der Nacht zum 10. Mai 2013 werden die Eltern wach, es riecht nach Feuer. Sie laufen in den Keller, in Loréns Zimmer, finden ihre Tochter, tot. Erstochen vom Ex-Freund, mit einem Deko-Schwert, weil er nicht damit fertig wurde, dass sie Schluss gemacht hatte. Das Feuer legte er, um seine Tat zu vertuschen. Lorén wurde nur 24 Jahre alt.

 
  © Kuuuk-Verlag

In der Grundschule las Lorén ein Kinderbuch, „Die kleinen Leute von Swabedoo“. Sie liebte die Geschichte so sehr, dass das der Kosename wurde, den ihre Eltern für sie wählten: Die Prinzessin von Swabedoo. Charlotte Uceda Camacho hat alles aufgeschrieben. Wie ihre Tochter als kleines Mädchen in den Kindergarten kam, und wie sie sie tot auffanden. Wie sie als kleines Mädchen weinte, als sie eine Brille bekam, und wie die Handwerker ihr verkohltes Zimmer reparierten. Wie Lorén ihren Vater dazu brachte, zum ersten Mal ein Fußballspiel im Stadion zu besuchen, und wie sie bei der Polizei die Asservaten-Kartons abholten.

Sparschwein steht noch in der Küche

Es gab Momente, da schrieb Uceda Camacho zwei Sätze, dann konnte sie nicht mehr, oft für Wochen. Irgendwann zwang sie sich zum Weiterschreiben. Ihre Tochter, die sie unter Schmerzen geboren hat, die sie aufgezogen hat, mit der sie lachte und auch mal stritt, wurde im eigenen Haus, nur wenige Meter von ihr entfernt umgebracht. Sie und ihr Mann haben den Leichnam gefunden. „Das steckt man nicht weg. Niemals“, sagt Uceda Camacho.

Als noch alles gut war: Charlotte, Jana, Lorén und José Angel Uceda Camacho
Als noch alles gut war: Charlotte, Jana, Lorén und José Angel Uceda Camacho © privat

Sie denken an sie, immer. Immer. Immer. Jana, Loréns Schwester, wohnt oben im Haus, und wenn sie etwas sagt, überlegt ihre Mutter, was Lorén geantwortet hätte. Sie denkt daran, wie sie in bestimmten Situationen reagiert hätte. In der Küche steht noch ihr Sparschwein, an ihrer Zimmertür hängt die Bart-Simpson-Figur aus Moosgummi, die Lorén gebastelt hat. „Wir wollten ihr nahe sein“, ihre Mutter zuckt die Achseln, fast, als wollte sie sich entschuldigen, dass sie Loréns Privatsphäre verletzten, als sie ihre Sachen durchsahen. „Es tut so unglaublich weh, und wir können nicht davor fliehen. Der Schmerz ist so groß – besser, man lässt ihn zu.“ Viele Momente sind schmerzhaft. Manche Momente sind schön.

In ihren Freunden lebt Lorén weiter

Wenn Loréns Freunde kommen, zum Beispiel. Sie alle halten engen Kontakt zur Familie, „in ihnen sehen wir ein Stück von Lorén wieder. Jeder hat eine andere Charaktereigenschaft, die zu ihr passt.“ Eine Freundin hört die gleiche Musik wie Lorén, eine andere lässt wie sie viele Dinge zu Hause herumliegen. Wenn sie zufällig auf der Straße jungen Menschen begegnet, sucht Charlotte Uceda Camacho Loréns Gesicht in ihnen. Und findet es nie.

Eine Sache ruft sich Charlotte Uceda Camacho immer wieder in Erinnerung. „Mama, du darfst nie aufgeben.“ Sie weiß noch, wie Lorén diesen Satz sagte. Es ging um eine Kleinigkeit, mit der Krankenkasse oder dem Amt, die Mutter ärgerte sich. Da meinte Lorén: „Mama, du darfst nie aufgeben.“ Diesen Satz, Loréns Stimme, hört sie immer wieder. Vielleicht, hat sie überlegt, kann sie es deswegen irgendwie ertragen. Sie gibt nicht auf. Lorén hätte das nicht gewollt.

Die Besuche der Freunde, die schönen Erinnerungen – in solchen Augenblicken empfindet Charlotte Uceda Camacho wieder etwas Glück. Sie genießt diese Momente, hält sie fest. Die Freunde sind hier, also kann Lorén nicht weit sein. „Ich habe mir unser Leben so nie vorgestellt. Ich dachte immer, wir haben ein glückliches Leben.“ Sie kann nicht vergessen, nicht vergeben. Aber sie kann sich an ihre Tochter erinnern. „Ich möchte meiner Tochter ein Andenken setzen. Eines Tages werde ich sterben. Aber das Buch wird noch da sein. Ihre Geschichte wird bleiben.“

Ihre Spielsachen sind noch da

Als die Familie Loréns Auto ummelden musste, schnürte es Charlotte Uceda Camacho die Brust zu. „Ich habe zu ihr gesagt: Eigentlich musst Du hier sitzen! Ich mache auch nichts kaputt.“ In Loréns altem Zimmer liegen ihre bunten Spielsachen, säuberlich im Regal. Die Eltern waren nicht fähig, die Sachen wegzugeben. Sonst ist es, als wäre Lorén nie da gewesen. „Das wäre, als wollte man etwas löschen. Aber nach 25 Jahren kann man ein Leben nicht löschen.“ Lorén ist nicht mehr da, aber ein bisschen ist es so, als wäre sie im Urlaub und kommt irgendwann zurück. Denn ihre Sachen liegen noch in ihrem Zimmer. „Das nimmt dem Raum etwas den Schrecken“, sagt ihre Mutter. Sie geht nie hinein.

Die Familie hat lebenslang: Anklage einer Mutter 

„Wenn ich nicht laut sage, was uns passiert ist, gebe ich diesen Menschen Deckung. Sie können weitermachen, weil keiner ein Wort sagt.“ Charlotte Uceda Camacho fühlt sich ein zweites Mal traumatisiert. Und ein drittes Mal. Als die Verteidigerin im Gerichtssaal Dinge über Lorén sagt, so primitiv, dass Uceda Camacho vor Wut und Demütigung nicht wusste, was sie tun sollte. Als der Richter im Interview zu seiner Pensionierung sagte, dass Wegsperren nicht Sinn von Strafe sei, Täter nicht lebensunfähig entlassen werden sollen. „Für Angehörige ist das sehr schwer nachzuvollziehen.“ Sie wollte nicht weiter schweigen. Auch deswegen das Buch.

Der Begriff „Hinterbliebene“ sei falsch, sagt Uceda Camacho. Sie sind Opfer. Viele Angehörige seien unfähig zu handeln, sagt sie. Es geht nicht mehr um sie, um ihren Verlust, ihre Angst. Der Täter steht im Mittelpunkt, ihm soll geholfen werden, trotz und wegen seiner Tat. Die Angehörigen, so empfindet Uceda Camacho es, werden alleingelassen.

Ihre Wut wurde immer größer, sie wollte laut schreien; jedem ins Gesicht schreien, was hier passiert ist, „ich kann es nicht mit ins Grab nehmen.“ Sie erinnert sich an so viel, was sie wütend werden lässt. Wie Loréns Handy auf dem Boden ihres Zimmers lag; in dem Zimmer, in dem der Tod sie fand. Drei Tage lang wurden Spuren gesichert in diesem Raum, sagt Uceda Camacho „und dann riefen sie an und fragten, ob Lorén ein Handy hatte. Sie verdonnerten mich, in das Mordzimmer zu gehen.“ Am Tag nach der Tat, die Feuerwehr hatte die Familie zu den Nachbarn gebracht. Dort saßen sie, bei Kaffee und Wasser, während die Kripo ihr Haus durchsuchte. Und dann sollten sie hingehen an den Ort, an dem Lorén gestorben war, damit sie keine Lücken in der Erinnerung hätten, erzählt sie. „Sie lag noch auf dem Boden. Sie lag noch da. Als sie sie in den Plastiksack steckten und den Reißverschluss zuzogen dachte ich ‘Hört auf! Sie kriegt doch keine Luft!’“

Verteidigerin droht mit Klage

An Loréns Geburtstag postete Charlotte Uceda Camacho etwas über den Täter bei Facebook. Seine Verteidigerin wollte sie deswegen anzeigen, weil er wegen eines anderen Delikts verurteilt worden war. Uceda Camacho schrieb einen Brief an die Juristin, fragte, warum die sie so demütige und erniedrige. Ob es nicht genug sei, dass ihr Kind vom Mandanten der Frau getötet worden sei. Als Reaktion habe die Frau entwürdigende Behauptungen über Lorén in der Öffentlichkeit von sich gegeben. „Das hat so wehgetan.“

Das alles hat sich tief eingeprägt ins Gedächtnis. „Das Bild verschwimmt nicht“, sagt sie. Manchmal, wenn die Nachbarn ihre Öfen anheizen, die Schornsteine qualmen, muss sie an den Geruch des Brandes denken, der verschleiern sollte, dass Lorén gewaltsam starb.

Die Gedanken bleiben für immer: Die Mutter verarbeitet das grausame Geschehen durch das Schreiben 

„Der Kopf denkt nicht, es ist aus meinem Inneren direkt aufs Papier geflossen.“ Chaos im Kopf. Charlotte Uceda Camacho findet ein Bild dafür: Ein riesiger Aktenschrank, groß wie ein Zimmer. Alle Blätter aus den Ordnern gerissen, auf einen Haufen geworfen. „Das Buch zu schreiben war, wie diese Blätter wieder in die Ordner zu heften“, sagt sie. Die Blätter, sie sind nicht weg. „Sie werden immer da sein. Aber sie sind sortiert.“ Das Buch schrieb sie selbst, das war ihr wichtig. „Es muss mich authentisch darstellen. Es muss unsere Tochter authentisch darstellen.“

Uceda Camacho gab dem Chaos eine Struktur. Damit ihr Kopf nicht mehr so weh tut. „Ich konnte an nichts Anderes mehr denken.“ Irgendwie funktionierte sie, aus Routine. Sie musste überlegen, ob sie schon etwas gegessen hatte. Und wo sie überhaupt Essen herbekommen sollte. Alle Gedanken kreisten nur um Lorén. Jahrelang, nur ein Thema vor Augen: Gerechtigkeit für ihre Tochter. Der Gerichtsprozess. Die Schmerzensgeldklage gegen den Täter, „auch wenn er das Geld nicht herbeischafft; er soll nie vergessen, was er getan hat.“

Als das Buch fertig war, fiel etwas von ihr ab. Lorén bleibt ein, wenn nicht der wichtigste Teil ihres Lebens. In dem riesigen Aktenschrank gibt es jetzt auch Platz für anderes.