Siegen. Die Sammlungsbewegung Aufstehen hat jetzt auch einen Ableger in Siegen. Der Kommunalpolitiker Peter Schulte ist einer der Mitgründer.

Politik jenseits der etablierten Parteien. Das ist der Anspruch der Sammlungsbewegung „Aufstehen“, die den Menschen im Land eine Stimme geben möchte, die sich von der Politik nicht mehr angesprochen fühlen, die aber etwas verändern möchten. Diesen Anspruch hat auch die frisch gegründete Aufstehen-Ortsgruppe Siegen. Einer der Mitgründer ist Peter Schulte – der sich mit Politik jenseits etablierter Parteien durchaus auskennt.

Wo steht Aufstehen Siegen jetzt?

Peter Schulte: Die Strukturen sind noch sehr locker, es wurde kein Verein oder so gegründet. Strukturen haben es ja an sich, dass sie relativ unbeweglich sind, lähmen. Bewegung und Struktur sind ein Stück weit ein Gegensatz. Aufstehen lebt von flachen Hierarchien, nur so viel wie nötig. Jetzt gibt es die Ortsgruppe Siegen, zuständig für den Kreis.

Zur Person: Peter Schulte

Peter Schultes erste politische Station war die WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit), in die er 2004 eintrat. Nach der Fusion zur Linkspartei/Die Linke wurde der heute 49-Jährige 2009 in den Siegener Rat gewählt.

2015 verließ Schulte die Partei und gründete die Wahlalternative für Siegen (WAS), die 2018 mit der UWG Siegen fusionierte. Nach kurzer Zeit verließ Peter Schulte aus persönlichen Gründen die neue Fraktion und gehört dem Rat seither als Fraktionsloser an.

Wie kam es zur Gründung?

In Olpe gab es bereits eine Ortsgruppe, die Vertreter aus Südwestfalen eingeladen hatte. 60 bis 70 Leute aus der Region sind hingefahren, darunter zehn aus Siegen. Wir haben uns zusammengetan, um als Team für Siegen eine eigene Gruppe zu gründen. Dieses Orga-Team hat die erste Versammlung vorbereitet.

Wie war die Resonanz?

Rund 30 Leute waren da, in sehr guter, konstruktiver, fröhlicher Atmosphäre. Der Gedanke von Aufstehen ist ja, die Linke parteiübergreifend zu vereinen – das steht in Siegen weniger im Fokus, das hat mich überrascht. Nur wenige kommen aus dem politischen Raum; überwiegend sind es Leute, die sich zum ersten Mal politisch engagieren wollen. Ich hoffe, dass dies nicht nur der nächste Aufguss ist, die Linke zu vereinen, sondern Menschen anspricht, die nicht auf dem Sofa sitzen, sondern die Gesellschaft weiterbringen wollen.

Warum machen Sie persönlich mit?

Das war auch für mich der Grund. Ich bin seit zehn Jahren in der Kommunalpolitik, man kann hier Dinge vor Ort verändern – aber in der großen Politik nicht. Da muss man sich übergeordnet engagieren, wenn man gewisse Veränderungen nicht unwidersprochen lassen möchte.

Sie meinen den Rechtspopulismus.

Ich hätte mir im Leben nie vorstellen können, dass aus politischen Gründen eine Situation entsteht, die mich dazu bringen könnte, das Land zu verlassen. Aber seit zwei Jahren kann ich mir das vorstellen. Ich rechne nicht damit, aber ich kann es nicht mehr ausschließen. Das hat mich betroffen und nachdenklich gemacht. Ich muss versuchen, daran etwas zu ändern. Die Parteien sind derzeit dazu leider nicht geeignet.

Die Bewegung könnte es schaffen?

Der Ansatz ist ja nicht neu und Deutschland längst nicht das einzige Land – man denke nur an Frankreich mit den Gelbwesten oder Macrons „En Marche“. Für die große Politik ist unser klarer Anspruch, etwas auf Bundesebene oder darüber hinaus zu verändern. Die Bewegung ist bundesweit organisiert. Die Ortsgruppe kann vor Ort die Menschen ansprechen, damit sie sich nicht allein fühlen und glauben, sie könnten nichts tun. Wir können aber hier etwas tun, das gleichzeitig an vielen Orten läuft. Am 16. Februar ist etwa eine „Bunte-Westen-Demonstration“ in Düsseldorf mit Aktivisten aus ganz NRW. Gleichzeitig findet diese Aktion in allen 16 Landeshauptstädten statt. Das ist eine kritische Masse, auch wenn nicht alle auf einem Haufen sind.

Aufstehen spricht die schweigende Mehrheit an?

Auch wenn Aufstehen ein tendenziell eher linkes Projekt ist, glaube ich, dass es weit in die politische Mitte ragt, wo Mehrheiten entstehen. Nach Rechts müssen wir uns klar abgrenzen: Wenn etwas, das Richtung Fremdenfeindlichkeit geht, hier einen Platz hat, muss ich überlegen, ob das dann noch richtig für mich ist. Hier ziehe ich eine klare Grenze. Man kann über Flüchtlingspolitik diskutieren, aber wenn ich das kritisiere, muss ich mich an die Politik wenden und nicht Flüchtlinge verantwortlich machen. Sie sind die Opfer: In ihren Heimatländern, während der Flucht und dann wieder hier. Das kann und will ich nicht akzeptieren. Flüchtlinge haben die gleiche Würde, die allen Menschen laut Grundgesetz zusteht. Aber nicht jeden, der die Situation kritisch sieht, sollte man den Rechten überlassen oder in die rechte Ecke stellen. Entscheidend ist, an wen sich Kritik richtet – Politiker können sich wehren, Flüchtlinge haben keine Lobby.

Ist das Flüchtlingsthema so wichtig?

Die Massenmedien machen es dazu – die übrigens auch Sahra Wagenknecht für Aufstehen zu sehr in die Mitte stellen. An der Gründung waren weitere, auch prominente Leute beteiligt, aber die Medien stürzen sich auf eine Führungsfigur. Hier spielt sie nur eine sehr geringe Rolle. Ich habe das Gefühl, dass sich nach Querelen im Bund die Ortsgruppen auf sich selbst konzentrieren und von den Gründern emanzipieren. Das muss auch so sein, die Bewegung soll von unten wachsen.

Welche Themen hat Aufstehen?

Soziale Gerechtigkeit und eine friedlichere Politik. Gewalt, militärische und andere, scheint als Mittel der Politik wieder akzeptierter. Es sind wieder Dinge sag- und denkbar, die das lange nicht waren. Zum Teil wird das auch von außen von Deutschland verlangt. Horst Köhler trat als Bundespräsident zurück, weil er die Bundeswehr-Doktrin kritisierte: „Wir schützen nicht nur, was wir haben, sondern auch was wir haben wollen“. Das noch als Verteidigung zu definieren, finde ich problematisch. Afrika hat reiche Bodenschätze. Diese Ressourcen sind die Chance, dass die Menschen dort nicht weg wollen und müssen. Sie haben aber gar nichts davon, sondern nur ein paar reiche Cliquen, den Rest bekommen wir. Vieles davon wird nicht mehr hinterfragt und das ist schlimm.

Welche Rolle spielt Europa?

Ohne die EU hätten wir nach kurzer Zeit Krieg. Die Gegensätze benachbarter Staaten lassen sich nur in einem größeren Konstrukt ausgleichen. Nehmen sie die Nato: Dieser Überbau diszipliniert Griechenland und Türkei immerhin so, dass es nicht zum Krieg kommt. Intern wirkt sie darauf hin, dass ihre Mitglieder friedlich bleiben und ihre Probleme mit Hilfe der anderen lösen. So ist es auch mit der EU.

Nicht nur zwischen Staaten, auch innerhalb von Gesellschaften brechen Konfliktlinien auf.

Die Sozialen Netzwerke fördern diese Zersplitterung. Vorher benötigte man eine gewisse kritische Größe, um mit seiner Meinung Gehör zu finden, jetzt können das auch kleinere Gruppen leicht. Was dort jetzt teilweise geäußert wird, gab es auch vorher, wir hörten nur nichts davon. Jetzt müssen wir uns damit auseinandersetzen.

Ist das ein Thema für Aufstehen?

Wir kommunizieren nicht mehr miteinander. Früher wurden Meinungen ausgetauscht, heute gehen die Leute von vornherein mit der Vorstellung in eine Diskussion, dass sie genauso wieder rauskommen. Sie ziehen nicht in Betracht, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen. Aber aus jeder Diskussion mit Leuten, die anderer Meinung sind, kann ich etwas mitnehmen, etwas lernen. Man muss nicht alles akzeptieren, aber ich versuche zu verstehen, warum jemand so denkt.

Hat Politik das versäumt?

Politik hat es seit Langem versäumt, Politik zu erklären. Typisches Argument ist „alternativlos“ – es gibt immer Alternativen. Den Menschen wurde nicht gesagt, worum es ging, bei den Hartz-Reformen etwa. Das eigentliche Ziel war hier nicht die Senkung der Standards im Sozialbereich, sondern des Lohnniveaus auf breiter Front. Deswegen wurde Deutschland so „wettbewerbsfähig“ – uns geht’s vergleichsweise gut und die Länder um uns herum sind in Schwierigkeiten, weil wir einen Exportüberschuss haben und sie Schulden bei uns machen müssen.

Gibt es eine Front zwischen dem Staat und den Bürgern?

Es ist schon schlimm, dass es Bürger gibt, die das so sehen. Weil sie nicht sehen, dass sie selbst Teil des Staats sind. Diesen vermeintlichen Gegensatz wollen wir ein Stück weit wieder versöhnen. Das bedingt, dass die Menschen sich mehr einmischen und Verantwortung tragen wollen.

Will Aufstehen demnächst auch in die Kommunalpolitik gehen?

Wohin es sich entwickelt, können wir nicht sagen. Ich rechne aber nicht damit, dass wir zur Kommunalwahl antreten. Das System ist natürlich auf Parteien ausgerichtet, vielleicht ein Stück weit ein Konstruktionsfehler, der Bewegungen einschränkt. Es ist noch nicht klar, wohin es geht – das muss es aber auch nicht sein. Ich hoffe dass sich die Bewegung emanzipiert, in Bewegung bleibt und nicht bewegt wird.

Also jedenfalls keine Partei.

Ich merke bei den Leuten eine gewisse Distanz. Sie möchten in keine Partei und sie wollen nicht, dass Aufstehen eine wird. Ich habe mich online eingetragen und wollte nicht erstmal gucken, wie es sich entwickelt, sondern erstmal mitmachen. Es geht nicht um Sahra Wagenknecht, sondern was wir draus machen. Aufstehen sollte kein Schnellschuss sein: Will die Bewegung etwas verändern, braucht sie einen langen Atem. Sie sollte gründlich von unten aufgebaut werden und nicht zu schnell zu groß werden.

Sie sind seit zehn Jahren in der Politik – ist damit das Ende in Sicht?

Ich werde mich sicher nicht aus der Politik heraushalten – immerhin bin ich ja zu Aufstehen gegangen. Aber ich kann mir auch ein Leben nach der Politik vorstellen. Ich weiß nicht, wie es weitergeht, das lasse ich auf mich zukommen. Jedenfalls bin ich nicht auf irgendwelche Posten scharf. Meine Überzeugungen sind mir wichtig. Die haben sich nicht geändert, als ich etwa die Linke verlassen habe. Politik macht mir jetzt auch als Fraktionsloser Spaß.