Netphen. . An der Grundschule Netphen wird zuerst Druckschrift unterrichtet. Zwei Lehrerinnen, zwei Schüler und ein Pensionär machen Proben aufs Exempel.
„Der Erde köstlicher Gewinn ist reines Herz und froher Sinn.“ Am 26. Januar 1921 hat Gudrun das ihrer Freundin ins Poesiealbum geschrieben, zur Erinnerung an die „goldene Schulzeit“. Annette Kramps hat das Poesiealbum ihrer Oma herausgekramt – das Lesen fällt nicht leicht. Drei Generationen haben sich in dem Klassenraum der Grundschule Obernetphen versammelt. Alle drei haben in der Schule anders schreiben gelernt. Aber keiner die „Schulausgangsschrift“, deren 50.Geburtstag begangen werden soll.
Die Idee: Einfach mal schauen, wie heute an der Schule geschrieben wird — und was bei Erwachsenen davon übrig bleibt. Lehrerin Rosi Henrichs, ihr pensionierter Kollege Dieter Holzbrecher und Rektorin Annette Kramps machen mit.
Druckschrift zuerst
Joel und Emma sind in der 3. Klasse. Bei den Poesiealben der Oma ihrer Schulleiterin Annette Kramps müssen sie passen. Bei dem von Annette Kramps Mutter, in dem sich Freundinnen und Lehrer in den 1950er Jahren verewigt haben, schon weniger. „Ein bisschen“, sagt Emma, könne sie schon die Handschrift der eigenen Eltern entziffern. Joels Eltern haben in Russland und Kasachstan Schreiben gelernt — das macht das Lesen für den Sohn noch schwieriger. Dabei sollte alles so schön sein. Bei Rosi Henrichs haben die Kinder Druckschrift zuerst gelernt. Der „Schreibschatz“, eine Kladde im A-4-Format, begleitet sie die ganze Grundschulzeit und illustriert, wie sich aus den einzelnen Buchstaben verbundene, individuelle Handschriften entwickeln. „Eigentlich richtig schön“ findet die Lehrerin die Ergebnisse.
Rosi Henrichs findet die neue Freiheit gut: Jedes Jahr neue Hefte mit neuen Lineaturen, überhaupt, zwei Schriften lernen, die dann doch nicht halten. „Bei meinem Sohn ist ein furchtbares Gekrockel herausgekommen“, sagt sie, „wir haben viel zu viel Kraft und Zeit für diese Schrift verwendet.“ Außer dem „A“ im Vornamen hat Annette Kramps nicht viel übrig gelassen von der schnörkeligen lateinischen Ausgangsschrift, die sie selbst in der Schule gelernt hat.
„Stimmt das?“, fragt Annette Kramps die Kollegin nach dem i in der vereinfachten Ausgangsschrift. „Könnte schöner sein“, urteilt Rosi Henrichs.
Hauptsache: Leserlich
Zu der Nachlässigkeit der Erwachsenen hat sie eine eigene Meinung: „So kann man Lese-Rechtschreibschwächen kaschieren“, glaubt sie, „es war zum Beispiel auch mal Mode, dass man ein u wie ein n schreibt, weil das angeblich schneller geht.“ Weil selbst in Netphen die Grundschulen sehr unterschiedlich mit dem Schreibschrift-Thema umgehen, sind die weiterführenden Schulen mit ihren Ansprüchen bescheiden geworden: Eine Schrift, die man lesen kann, sollen die Kinder halt mitbringen.
Jede Generation schreibt anders
„50 Jahre Schulausgangsschrift“ sind das Thema einer Ausstellung in der Uni-Teilbibliothek Unteres Schloss, die am Mittwoch, 23. Januar, 18 Uhr eröffnet und bis 20. Februar gezeigt wird.
Die „SAS“ wurde 1968 in der DDR eingeführt, während in der (West-)Bundesrepublik 1972 eine „Vereinfachte Ausgangsschrift“ die schlaufenreiche „Lateinische Ausgangsschrift“ von 1953 ablöste. Bis dahin wurde an den Schulen, seit 1941, die „Deutsche Normalschrift“ gelehrt, die wiederum an die Stelle der Sütterlinschrift trat.
Heute lernen Schulkinder in Nordrhein-Westfalen Druckschrift, aus der sie dann ihre eigene, verbundene Handschrift entwickeln sollen.
Mein Z, das ich Ende der 1960er gelernt habe, geht nicht durch: „Das kleine z hat keinen Querstrich“, korrigiert Dieter Holzbrecher. „Das k war abenteuerlich“, erinnert sich Rosi Henrichs. Kollege Schulz ist überzeugt, in seiner Schulzeit Schönschriftnoten bekommen zu habe. „Im Osten?“, fragt Rosi Henrichs. „Im Sauerland“, antwortet Schulz. „Schon falsch“, quittiert Dieter Holzbrecher den ersten „lateinischen“ Schwung von Rosi Henrichs. „Gut, dass wir das abgeschafft haben“, antwortet sie.
„Natürlich“ habe es in seiner Schulzeit Noten fürs Schönschreiben gegeben. Dieter Holzbrecher ist 77 – was das Schreiben angeht, hat er den weitesten Weg hinter sich. Die längste Strecke mit der Lateinischen Ausgangsschrift. „Sütterlin mussten wir später auch noch lernen, weil das ja die Schrift unserer Eltern war.“ Als Lehrer an der Hauptschule habe er darauf geachtet, dass seine Handschrift für die Schüler lesbar war. „Als ich später Grundschullehrer wurde, musste ich das noch einmal richtig lernen.“
Die Schulstunde zum Geburtstag der Schulausgangsschrift ist vorbei. Offen geblieben sind viel wesentlichere Fragen. Zum Beispiel, wie Kinder eigentlich die Grenze zwischen zwei Wörtern erkennen und warum Haustür ein Wort ist, wo Haus und Tür doch zwei Worte sind. Warum sich die Kinder, also die Mädchen, der 1920er und 1950er Jahre in ihren Poesiealben eigentlich vor allem unter die Haube gewünscht haben. Und was in den Freundschaftsbüchern von Emma und Joel steht.
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