Siegen. . Historiker: Hätte die Siegerlandhalle gebaut werden dürfen? Wie war der Alltag im Reservelazarett Kaisergarten während des Ersten Weltkriegs?
Hätte die Siegerlandhalle gebaut werden dürfen? Wie sah das prachtvolle Hotel Kaisergarten am Kampen vor seiner Zerstörung aus? Und wie kam die 68er-Revolution bei den Menschen in der ländlichen Provinz an? Fragen, auf die die aktuelle Ausgabe der „Siegener Beiträge“ der Geschichtswerkstatt Siegen – Arbeitskreis für Regionalgeschichte zumindest manche Antwort bereithält. Das 23. Jahrbuch für regionale Geschichte – Siegener Beiträge ist zum Preis von 22 Euro im Buchhandel oder im Stadtarchiv Siegen (Krönchen-Center) erhältlich.
Richtigstellung zur Eintracht
150. Geburtstag feierte die Gläser-Stiftung kürzlich. Leonhard Gläser hatte das Eintracht-Vereinsgrundstück um die heutige Siegerlandhalle der Stadt übergeben – aber nicht als Geschenk für alle Bürger, wie heute kolportiert wird, sondern für die zahlenden Mitglieder des Vereins „Eintracht“. Christian Brachthäuser hat die alten Schriftstücke unter die Lupe genommen – Gläser wollte das Grundstück lediglich von der Stadt verwalten lassen, im Interesse der Vereinsmitglieder, geknüpft an eindeutige Bedingungen, die Stadt konnte also gemäß der Statuten nicht nach Gudünken damit verfahren. Diese Bedingungen, so Brachthäuser, wurden nach dem Tod Gläsers verwässert oder ignoriert. „Das, was Gläser vermacht hat, geht nicht 1:1 mit dem konform, was man heute daraus macht“, sagt der Historiker. So sollte die Eintracht etwa nur zu öffentlichen Anlässen geöffnet sein und sonst Privatgelände bleiben, Unbefugten sei der Zutritt zum Gelände zu verweigern – ausdrücklich. Auch bauliche Veränderungen waren nie vorgesehen, so Brachthäuser – eine Halle auf dem Grüngelände hätte Gläsers Zielen von Aktivitäten widersprochen, er sah sie als Abschottung und Ausgrenzung. Noch zu Lebzeiten wunderte sich Gläser darüber, dass die Gründung der Eintracht gleichgesetzt wurde mit einer wohltätigen Stiftung.
Gelehrter auf dem Globus
Der Autor und Diplom-Geograf Jost Schmid-Lanter, Leiter der Abteilung Karten und Panoramen an der Züricher Zentralbibliothek hat die überhaupt erste wahrscheinliche Abbildung des in Siegen geborenen Renaissance-Gelehrten Tilemann Stella (1525-1589) gefunden: Auf den Streben des St. Galler Globus von 1576. Dort sind verschiedene bekannte Gelehrte jener Zeit in Holzschnitten abgebildet, eines sticht heraus: Eine Person, die als „Plato“ firmiert, ist als einzige Person zeitgenössisch gekleidet und schaut den Betrachter an. Zudem hat er einen Quadranten, ein astronomisches Instrument, in der Hand – damit wird die der Höhenwinkel eines Sterns bestimmt.
Das spielt laut Schmid-Langer auf Tätigkeit und Namen des Astronomen an. Tilemann Stella hieß vermutlich in Wahrheit Tilmann Stolz und latinisierte seinen Namen – „Stella“ heißt auf Latein „Stern“. Architekten jener Zeit etwa hätten sich häufig mit Zirkel darstellen lassen, um auszudrücken, dass sie die Geometrie beherrschten, so Schmid-Lanters Rückschluss. Stella war der Astronom, Kartograf, Mathematiker und Bibliothekar – und Globenbauer. Der Globus mit 1,21 Metern Durchmesser und 2,33 Metern Gesamthöhe wurde erst vor wenigen Jahren in St. Gallen entdeckt – einer der größten seiner Art nördlich der Alpen.
Heimatfront am Kaisergarten
Ludwig Burwitz fielen 31 Feldpostkarten des Krankenwärters und Ersatz-Reservisten Max Sinkens aus Kiel in die Hände, der während des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918 im Reservelazarett Kaisergarten-Hotel tätig war. Der junge Mann schickte in dieser Zeit Ansichtskarten an seine Angehörigen – einige Fotos waren eigens im Kaisergarten vom Fotografen Ludwig Rottmann aus Attendorn angefertigt worden. Sie zeigen den Alltag im Lazarett (Zitat Sinkens: „Denkt Euch, wir sind hier mit 95 Kranke [sic!] u. hierfür sind 10 Krankenwärter.“) und lassen Rückschlüsse auf deren Funktionsweise sowie Siegen als Stadt an der Heimatfront zu. „Es gab im Ersten Weltkrieg eine Reihe von Lazaretten in Siegen – am Kaisergarten war das größte“, so Burwitz. Auch deshalb sind die Aufnahmen eine interessante Quelle, weil es vom alten Kaisergarten-Gebäude sonst kaum Ansichten gibt. Lange war das repräsentative Gebäude die wichtigste und prächtigste Versammlungsstätte Siegens – hier gab es Stummfilmvorführungen, Ringkämpfe oder Theater.
68er – Revolution in Siegen?
Der NPD-Parteitag in der Siegerlandhalle, die Hasstiraden auf dem gestifteten Gelände des Philantropen Leonhard Gläser – erstmals regte sich der Widerstand in der Bevölkerung. „Unter der Oberfläche brodelte es“, sagt Ludwig Burwitz – Ausdruck dessen war etwa der Schülerinnenstreik am Lyzeum. Aber was ist sonst noch passiert im eher beschaulichen Siegerland in dieser Zeit gesellschaftlicher Umbrüche? Und wie wirkte das auf die Bevölkerung in der ländlichen Provinz? Das möchte die Geschichtswerkstatt näher aufarbeiten und bittet um Hinweise, Bilder, Erlebnisberichte, Flugblätter, die noch in den Kellern und Archiven lagern. „’68’ ist eine Chiffre für eine Entwicklung, die in den 50ern ihren Anfang nahm und die in den 70ern noch lange nicht beendet war“, sagt Burwitz. Das muss es auch in Siegen gegeben haben, nur eben nicht so prominent wie Dutschke und Co. Danach suchen die Historiker. Burwitz: „Aus Siegen gibt es quasi nichts zu ‘68.“
- Kontakt: Ludwig Burwitz, l.buwritz@siegen.de, 0271/4040-3080 oder Christian Brachthäuser, c.brachthäuser@siegen.de, 0271/404-3090 oder Geschichtswerkstatt-Vorsitzender Dr. Bernd Plaum, bernd.plaum@gmx.de, 02734/434612
Weitere Themen
Olaf Wagener: Wilhelm von Oranien, der Freiheitskampf der Niederlande und die Rückwirkungen auf das Siegerland.
Jens Friedhoff: „Nach nothdurft des Haußes genugsam Haußrath“ – Frühneuzeitliche Inventare der Wildenburg als Quelle zur adeligen Wohnkultur.
Peter Kunzmann: Die preußische Bergakademie – keine Option für Siegen.
Tobias Gerhardus: Dr. Kurt Müller, Oberstudiendirektor am staatlichen Oberlyzeum in Siegen.
- Mehr Nachrichten, Fotos und Videos aus dem Siegerland gibt es hier.
- Die Lokalredaktion Siegen ist auch bei Facebook.