Weidenau. . Das Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium in Siegen zertifiziert sich als Schule ohne Rassismus. Was das bedeutet, sagt Schulleiter Rüdiger Käuser.
Das Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium ist als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ zertifiziert worden. Warum das wichtig ist und was das bedeutet, darüber hat Steffen Schwab mit Schulleiter Rüdiger Käuser direkt nach der Feierstunde gesprochen.
Wie sind Sie „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ geworden?
Rüdiger Käuser: Vor drei Jahren hat die Schülervertretung (SV) die Initiative ergriffen und berichtet, dass an anderen Schulen die Schulleitung den Anstoß gegeben hat. Das wollte ich so nicht. Ich wünschte mir, dass das zunächst von der Schülerschaft begonnen wird und wir das dann als Schulleitung und Kollegium maßgeblich nach vorne treiben. So ist es dann auch passiert.
Was war denn das Motiv?
In den letzten sechs, sieben Jahren haben sich Schüler- und Elternschaft dieser Schule stark gewandelt. Wir haben inzwischen deutlich mehr Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. 30 bis 40 Prozent in manchen Jahrgangsstufen kommen aus Familien, in denen zu Hause nicht Deutsch als Verkehrssprache gesprochen wird.
Für ein Gymnasium ist das viel. Die Schule liegt im Norden Siegens, den Stadtteilen, in denen in den letzten Jahren hohe Zuwanderungsraten waren. Wir haben schulintern an vielen Stellen darauf reagiert – neues Leitbild, neue Unterrichtstaktung, neue Unterrichtsformen – und viel geändert, und wir waren dankbar, als dann diese Initiative der Schülerinnen und Schüler kam, die wir in den letzten zwei Jahren begleitet haben.
Dass Sie viele Schülerinnen und Schüler mit nicht deutscher Muttersprache haben, führt doch nicht automatisch zu einem Rassismusproblem.
Wir haben auch kein Rassismusproblem, wir haben keine Vorfälle mit rassistischem Hintergrund, aber es geht hier auch um den Erziehungsauftrag der Schule und um gesellschaftliches „Zeichen-setzen“. Es wird unseres Erachtens immer wichtiger, dass Schule ihrem Erziehungsauftrag nachkommt und dabei auch dem gesellschaftlichen Trend widerspricht, wie er in den letzten Jahren feststellbar ist. Dabei versuchen wir auch, eine pädagogische Wirkung in die Elternhäuser hinein zu erzielen. Hier muss, gerade im Moment, ein deutliches Signal von Schulen gesetzt werden.
Hat die Flüchtlingszuwanderung vor drei Jahren eine Veränderung bewirkt?
Wir haben insgesamt 22 Schülerinnen und Schüler der unterschiedlichsten Jahrgangsstufen aufgenommen, überwiegend aus Syrien und Afghanistan, die diesen besonderen Status hatten. Das hat vielleicht dazu geführt, dass die Schülerschaft das Thema noch einmal deutlich intensiver behandelt hat. Es hat zu einer Gesprächskultur geführt, nicht zu neuen Formen der Ausgrenzung. Wir haben das Gefühl gehabt, dass die schulisch überwiegend gut gelingende Integration dieser Schülerinnen und Schüler die Sensibilität der Schülerschaft insgesamt gesteigert hat.
Wo sehen Sie, wo sehen die Schülerinnen und Schüler im Alltag die Schwelle, an der Verhalten und Äußerungen kritisch werden?
Das können wir relativ deutlich innerhalb der Lerngruppen feststellen: Wenn Ausgrenzungen passieren, indem bestimmte Freundesgruppen sich vor dem Hintergrund ihrer ethnischen, kulturellen oder religiösen Herkunft definieren, indem innerhalb von Schülergruppen selbst Ausgrenzungen stattfinden oder andere aktiv ausgegrenzt werden. Das sind dann solche Situationen, wo wir aktiv werden müssen. Die Schülerinnen und Schüler selbst würden das nie als rassistische Aktionen verstehen.
Zur Person
Oberstudiendirektor Rüdiger Käuser (58) leitet das Weidenauer Fürst-Johann-Moritz-Gymnasium seit 2007. Er ist auch Vorsitzender der westfälisch-lippischen Direktorenvereinigung.
Überhaupt ist der Begriff insgesamt ja auch sehr schillernd, wenn man die historischen Wurzeln und Bezüge einmal beiseite lässt. Das ist auch für uns in den nächsten Wochen und Monaten eine wichtige Aufgabe, mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam zu schauen, was wir eigentlich mit Rassismus im Schulalltag meinen.
Also: 5. oder 6. Klasse, Sport, die wählen ihre Mannschaften. Und auf einmal haben Sie ein deutsches und ein Migrantenteam. Würden die verstehen, wenn man ihnen sagt, dass sie gerade rassistisch gehandelt haben?
Das ist ja die hohe Kunst des Pädagogen, solche Situationen vorwegzunehmen, und wenn es dann doch passiert, nicht sofort mit dem Begriff des Rassismus zu kommen, sondern deutlich zu machen, dass gerade etwas passiert, das die Würde derer, die in der Lerngruppe sind, unterschiedlich gewichtet. Und dass das falsch ist. Was als großer Begriff, Rassismus, existiert, ist ein Etikett. Der Lebensalltag besteht aus vielen kleinen Einzelelementen, die man, wenn’s schief läuft, als rassistisch beschreiben könnte.
Das kann man ja weiterdenken: Wenn in Szenen aus Unterrichtsmaterialien nur weiße Familien vorkommen, nur deutsche Familien?
Was Unterrichtsmaterialien angeht, ist an vielen Stellen darauf schon sehr sensibel geachtet worden. Da sind wir schulischerseits vielleicht von der gesellschaftlichen Realität sogar noch entfernter, die sich viel radikaler, viel ausgrenzender entwickelt hat, als wir das in der Schule manchmal noch spiegeln. Gerade in Lehrwerken wird sehr stark auf Heterogenität hingewiesen. Die Realität entwickelt sich derzeitig leider in Teilen sehr viel schneller und radikaler in andere Richtungen.
Wo ist denn da Ihre Brandmauer, die verhindert, dass Gesellschaft in Ihren Schulalltag eindringt?
Das ist ein Balanceakt. Für uns ist es täglich Thema, kulturelle, ethnische, religiöse Vielfalt als gewünscht positiv zu besetzen, aber andererseits deutlich zu machen, dass wir in einem Land leben, das eine bestimmte Tradition, eine christliche Verwurzelung hat. Und dass es da Werte und Positionen gibt, von denen wir nicht abweichen wollen. Vor zwei Jahren haben wir zum Beispiel festgestellt, dass in der Klasse 7 Schülerinnen mit Armbändern der AKP herumgelaufen sind und es infolgedessen zu Diskursen über die Frage kam, ob man nun Erdogan wählt oder nicht. Das habe ich als Schulleiter nicht zugelassen – das ist so ein Punkt, wo ich sage, bis hierhin und nicht weiter.
Eben haben Sie sehr viele – christliche – Weihnachtslieder gespielt.
Die sind aus dem Repertoire unseres Adventskonzerts vor zwei Wochen. Darüber muss die Fachschaft Musik sicher perspektivisch nachdenken. Türkisches Musikgut spielt zum Beispiel bis jetzt keine Rolle.
Schule mit Courage. Wie wird das denn erfahrbar?
Es hat Tradition an dieser Schule, dass politische Mitwirkung eine große Rolle spielt. Im Jugendparlament der Stadt Siegen ist das FJM immer relativ stark vertreten. Die Schülerschaft an dieser Schule hat seit vielen Jahren das Gefühl und auch den Anspruch, ernst genommen zu werden, und offensichtlich auch den Eindruck, Gehör zu finden. Ich glaube, dass Rassismus und Ausgrenzung von Kindern mit Migrationshintergrund noch nicht einmal der ursprüngliche Anlass war für die Initiative der Schülervertretung. Sondern dass es eher um die Sicherstellung des möglichst konfliktfreien und harmonischen Zusammenlebens ging. Aber das ist nur meine persönliche Einschätzung.
Zivilcourage erfordert auch Mut. Wie lehrt man den?
Wir nehmen dieses Thema sehr ernst. Vor vier, fünf Jahren haben wir sehr intensiv um unser neues Leitbild gerungen. Dieses Leitbild zeigt auf, was wir gerne leben wollen. Den aufrechten Gang kann man nur leben, wenn man ihn auch gelernt hat und wenn man Vorbilder bekommt. Aufrechter Gang heißt auch: Nein sagen.
Das wird gehört?
Das erlebe ich täglich. Bürgermeister Steffen Mues hat eben so schön berichtet, dass es ihn überrascht habe, dass ihm beim Betreten des FJM mehrfach die Tür aufgehalten wurde. Das hat etwas mit Umgangsformen auf ganz niederschwelligem Niveau zu tun. Dass man sich morgens begrüßt. Und zwar alle. Dass der Schulleiter nicht wortlos an einer Gruppe von Schülern vorbeiläuft und wartet, dass er gegrüßt wird. Dass man in unseren engen Fluren bei Begegnungen den anderen zuvorkommen lässt. Das sind kleine alltägliche Gesten. Im Alltag gibt es vieles, was wir als Verrohung, als Abstumpfung wahrnehmen. Da versuchen wir, als Schule deutlich gegenzuhalten. Nicht nur mit Worten. Wir versuchen es auch zu leben.
Das ist die analoge Welt. Wie sieht es in der digitalen aus?
Das ist ein für uns besonders schwierig zu beherrschendes Feld. Aus unserer eigenen - analogen - Schulzeit kennen wir, dass Konflikte in der Schule, auf dem Nachhauseweg konkret und sofort ausgetragen wurden, und dann in der Regel beendet waren. Heute haben wir eine Überlagerung von Prozessen, die im häuslichen Umfeld vorbereitet, vorangetrieben werden und in der Schule dann erst symptomatisch auffallen: Cybermobbing, das über die sozialen Medien passiert, ist auch bei uns ein Thema. Wir sind in einem digitalen Dunstkreis, der für Schule sehr oft nicht mehr einsehbar und verantwortbar ist. Wir meinen, das durch intensive Beratung einigermaßen in Griff zu haben. Das Thema wird weiterhin an Wichtigkeit gewinnen.
Das bedingt aber auch, dass Opfer sich öffentlich machen.
Manchmal sind Opfer auch Täter und Täter zugleich Opfer. Bei uns werden Konflikte deutlich, die im häuslichen Umfeld nachts um halb drei am Smartphone ausgelöst werden, wo letztendlich Eltern ihrer Aufsichtspflicht nicht nachkommen. Wir kommen dann aber in die Situation, Konflikte, die im privaten Bereich ausgelöst worden sind, als Symptom wahrnehmen zu müssen – und darauf reagieren zu müssen. Dazu muss sich jemand erst einmal als Opfer zu erkennen geben. Als Schule können wir Menschen zur Beratung und Unterstützung anbieten, ein sehr engagiertes Beratungslehrerteam, die in Kontakt mit Opfern, Tätern und Eltern treten. Aber: Wir können erst reagieren, wenn es ein schulisches Thema geworden ist. Das ist leider nicht immer so.
Das ist dann das Courage-Thema. Was machen Sie jetzt mit dem schönen Schild, das sie als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ auszeichnet?
Wir werden uns in den nächsten Wochen auf den Weg machen. Ganz viele Dinge sind schon angedacht. Die engagierten Schülerinnen und Schüler waren zwei Tage auf einem Seminar in Beienbach und haben sich dieses Themas angenommen. Zum einen wird es Projekttage geben, zum anderen werden wir überlegen, wo wir im Schulalltag bestimmte Verhaltensweisen, Situationen auffällig machen, bei denen die Gefahr besteht, dass man sich rassistisch verhält. Wo können wir Verhaltensweisen positiv deutlich, plakativ machen, zeigen, wie es eigentlich sein sollte. Wo können wir an kleinen Situationen im Lebensalltag Zeichen setzen?
Letzteres ist wahrscheinlich das anspruchsvollere Vorhaben.Wie geht das?
Wir hatten zum Beispiel schon mehrfach Aktionstage zu bestimmten Formen des alltäglichen Verhaltens. Wir haben mit multireligiösen Jahresabschlussfeiern experimentiert. Dann haben die Schülerinnen und Schüler gesagt: An sich eine gute Sache, aber wir wünschen uns ein anderes Format. Das würde ich gern aufgreifen.
Rana Alzahr und Raghad Amer sind zwei von 293. So viele von insgesamt 642 Schülerinnen und Schülern des Fürst-Johann-Moritz-Gymnasiums stammen aus anderen Ländern. Ja, sagen die beiden Mädchen, sie hätten Angst gehabt, in die Schule zu kommen. Aber dort, so sagen sie auch, „haben wir nie das Gefühl gehabt, nicht dazuzugehören.“ Miran Husein hat die hörbare Unterstützung der Freunde aus seiner Klasse, als er im Lichthof der Festversammlung berichtet. „Es gibt immer noch Rassisten“, sagt er und lässt durchblicken, dass er vieles erträgt: „Ich habe Humor. Aber seelisch verletzen lasse ich mich nicht, das akzeptiere ich auf keinen Fall.“
Die Feierstunde: Schüler nehmen kein Blatt vor den Mund
„Wir sind eine sehr vielfältige Schülerschaft“, sagt Konrad Albert aus dem Schülersprecherteam. Und eine, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Nils Klöckner, der auch im Jugendparlament der Stadt mitarbeitet, wirft den Erwachsenen vor, nicht nur vorbildlich zu sein — die AfD vertrete eben nicht nur eine Splittermeinung. „Um so wichtiger ist es, dass wir den Zusammenhalt im Kleinen stärken“, fordert Nils Klöckner. Die Zertifizierung als Schule ohne Rassismus sei „kein Titel, auf dem man sich ausruhen kann.“
Karsten Burkardt, beim Kommunalen Integrationszentrum eingesetzter Lehrer, ist stolz auf die jungen Menschen, die er bei der Bewerbung begleitet hat: „Ich freue mich unglaublich.“ 14 Schulen mit Courage bilden nun ein Netzwerk in Siegen-Wittgenstein, über 700 in NRW, über 2500 in Deutschland. Dass es guten Grund gibt, sich auf den Weg zu machen, sagt Burkardt aber auch: „Alltagsrassismus ist wieder salonfähig geworden.“
Bundestagsabgeordneter ist Pate
Das bestätigt Bürgermeister Steffen Mues, als er daran erinnert, wie 2008 erstmals eine Neonazi-Gruppierung den 16. Dezember, den Jahrestag der Zerstörung Siegens 1944, besetzt hat: „Plötzlich schaffen es diese Rassisten, sich wieder Gehör zu verschaffen.“ Stolz ist Siegen auf die seitdem gewachsene Gegenbewegung des „Gehdenkens“. Mues mahnt aber auch zur Vorsicht: „Rassismus ist irgendwo in uns allen drin.“ Das habe auch Mehmet Daimagüler, der Anwalt aus Siegen, der Nebenkläger im NSU-Prozess vertreten hat, zugegeben: wie er den Fahrer des Autos mit polnischem Kennzeichen verwünscht habe, der auf der Autobahn vor ihm her schneckt. CDU-Bundestagsabgeordneter Volkmar Klein ist Pate für das Projekt der FJM-Schüler: „Ihr zeigt, dass euch unser Land nicht egal ist.“