Müsen. Lothar und Uwe von Seltmann sind Autoren und dokumentieren Menschenleben — wie es unterschiedlicher kaum sein kann. Der Sohn zu Besuch in Müsen.

Es brennt! Brüder, ach, es brennt! Oh, unser armes Städtchen, wehe, brennt! Feuerstürme jagen, gieren, reißen, brechen und entfachen stärker noch die wilden Flammen, schon alles ringsum brennt! Und ihr steht und guckt und gafft nur mit verschränkten Händ‘, und ihr steht und guckt und gafft nur – unser Städtchen brennt.

Lothar von Seltmann hat mehr: Deutlich über 30 Bücher hat der 75-jährige Müsener inzwischen geschrieben. Uwe von Seltmann, sein Sohn, 54, kommt auf ein Dutzend. Er braucht länger. Sein neuestes Werk ist auch dicker: Fast 400 Seiten, 600 Fußnoten und 200 Abbildungen über Mordechai Gebirtig, den Vater des jiddischen Liedes, der 1942 im Alter von 65 Jahren im Krakauer Ghetto von den Nazis erschossen wurde. Lothar von Seltmann erzählt in seinem aktuellen Werk auf gut 200 Seiten die Geschichte von Angela, die nach einer traurigen Kindheit ihr Glück findet, das schnell von der tödlichen Krebserkrankung ihres tapferen kleinen Sohns Björn überschattet wird: „Licht, das durch die Wolken bricht.“

Nein, so, mit aufeinander gestapelten Büchern, kann man diese Geschichte nicht anfangen.

Zweiter Anlauf

Wen man auf der Leipziger Buchmesse so trifft

„Es gibt da diese nette Geschichte“, fängt Lothar von Seltmann an zu erzählen. Im Frühjahr 2000 treffen sich Vater und Sohn auf der Leipziger Buchmesse. Sie sind nicht miteinander verabredet. Uwe von Seltmann hat seinen Erstling dabei. „Karlebachs Vermächtnis“ über einen jungen Lokalreporter, der das Geheimnis des Judenhauses in „Merklinghausen“, unschwer als Müsen zu dechiffrieren, und die Verstrickungen der örtlichen Prominenz im Dritten Reich aufdeckt. Lothar von Seltmann präsentiert die Lebensgeschichte von Miluscha, die aus der Ukraine nach Deutschland kommt, Deportation und Zwangsarbeit übersteht, eine Familie gründet. Die erste von vielen Romanbiografien, wie von Seltmann seine Art Leben zu erzählen, nennt. Und dann eben Leipzig: „Keiner hat vom anderen gewusst, dass er an einem Buch schrieb.“

Die Vorgeschichte

Wie Sohn und Vater ans Schreiben kommen

Uwe von Seltmann hat in Kreuztal Abi gemacht, als das Gymnasium noch nach seinem Stifter Friedrich Flick benannt war. Weshalb der Kriegsverbrecher in seinem Karlebach den Namen „Frick“ verpasst bekommt. Wenn die Kirche ihm rechtzeitig einen Job gegeben hätte, wäre aus dem studierten Theologen ein evangelischer Pfarrer geworden. So führt ihn sein Weg über Leipzig, wo er als angestellter Journalist arbeitet, in die Freiberuflichkeit nach Krakau, wo er heute seinen Hauptwohnsitz hat und mit Ehefrau Gabriela lebt. Uwe von Seltmann erzählt von einem Urlaub 1996 auf Samos. „Da habe ich mit mir selbst einen Vertrag aufgesetzt.“ Ein Buch schreiben und von den Tantiemen ein Haus in der Toskana kaufen. „Das wird in diesem Leben nichts mehr werden.“ Das mit dem Haus.

Lothar von Seltmann wurde in Krakau geboren, wuchs als Vollwaise bei einer Pflegefamilie im Siegerland auf, schloss sich als Jugendlicher der evangelischen Gemeinschaftsbewegung an, textete und komponierte Lieder. Dass sein Vater, der sich 1945 das Leben nahm, SS-Mann war, sollte viel später eine wichtige Rolle für die Spurensuche seines Sohns und seiner Schwiegertochter spielen, deren Vater im KZ Majdanek umgebracht wurde. Lothar von Seltmann war Rektor der Adolf-Reichwein-Hauptschule in Dahlbruch. Bei einem Unfall wurde er so schwer verletzt, dass er den Beruf nicht mehr ausüben konnte und 1993 pensioniert wurde. Die in Sütterlin geschriebenen Tagebuchblätter von „Miluscha“ schickte er an einen Verlag – und der wollte mehr. Ehefrau Ulla ermunterte ihn: „Du warst doch so ein guter Deutschlehrer.“ Und dann, erzählt Lothar von Seltmann, „habe ich geschrieben, geschrieben, geschrieben ...“

Der Stoff

Wie Geschichten auf Hindernisse stoßen

Uwe von Seltmann blättert durch die Geschichte des kleinen Björn, der nur acht Jahre alt wird. Der Dreisbach kommt darin vor, „Eckertshofen“, unschwer als Eckmannshausen zu erkennen,und das unschwer als Dahlbruch zu erkennende „Dohlbrück“. Alles erfunden, betont Lothar von Seltmann. Angela O., wie sie in dem Buch abgekürzt wird, habe nicht gewollt, dass sie und ihr Herkunftsort identifiziert werden. „Da habe ich die Geschichte hierhin verlegt, wo ich mich auskenne.“ Ja, fügt er mit Blick auf den Sohn hinzu, „bei mir ist die Recherche einfacher.“ Lothar von Seltmann schreibt Lebensgeschichten auf, wie sie ihm erzählt werden oder aus Quellen nachzulesen sind. Uwe von Seltmann beantwortet die Frage nach seinem Beruf nicht selten mit „Rechercheur“. Vier Jahre lang hat er die Spuren von Mordechai Gebirtig nachvollzogen.

Druckfrische Lebensgeschichten

Das sind die beiden neuen Werke der von Seltmanns:

Lothar von Seltmann: Licht, das durch Wolken bricht. 208 Seiten. Verlag der Francke Buchhandlung, Marburg.

Uwe von Seltmann: Es brennt. Mordechai Gebirtig, Vater des jiddischen Liedes. 400 Seiten. Homunculus Verlag, Erlangen.

Wirtschaftlicher Erfolg? Lothar von Seltmann ist nahe dran an den Denkweisen seiner Verlage und Auftraggeber. Die Zielgruppe ist klar, deren Vorlieben sind es auch. Deswegen überlegt es sich der pensionierte Lehrer aus Müsen auch sehr gut, ob er sich des Lebens von Ohm Michels, des bekehrten Falschmünzers aus Wittgenstein, annimmt: „Das ist eine Männergeschichte.“ Und Männergeschichten gehen nicht. „Heimatliteratur habe ich nie geschrieben“, stellt Lothar von Seltmann klar. Der Vorschlag seines Sohnes , sich einmal mit Jung-Stilling zu befassen, läuft aber sowieso ins Leere – ein Mann.

Der Junior braucht ein wenig länger für die Antwort. Denn die fängt, wenn man nur die Vorgeschichte von „Es brennt“ betrachtet, 2014 an. „Eigentlich wollten wir einen Film machen.“ Über den elften Drehtag kam das Projekt nicht hinaus, dem ORF war die Dokumentation ganze 5000 Euro wert. Mordechai Gebirtig war auch arm, „er hat sich selbst als Sänger der Not bezeichnet“, sagt Uwe von Seltmann, „in Saus und Braus hätte ich mich da gar nicht reinversetzen können.“ Irenka, die Sphinx-Katze, begleitete den Autor in die selbst gewählte Dichter-Klause in Istrien. Wirtschaftlicher Erfolg also? „Ich bin ein großer Fan des bedingungslosen Grundeinkommens“, beantwortet Uwe von Seltmann die Frage schließlich.

Gemeinsames

Wo Unterschiede dann doch verbinden

Vater und Sohn haben es gelernt, nach dieser Überraschungsbegegnung in Leipzig, sich als Autoren wahrzunehmen. Man liest sich. Bei „Es brennt“, sagt Lothar von Seltmann, sei er so etwas wie ein „kritischer Erstleser“ gewesen. Wobei der Stolz auf den Sohn unverkennbar ist: Von manchem Band des Juniors steht schon das zweite und dritte Exemplar im Regal, weil die Vorgänger immer wieder weggeschenkt werden. Nur „Gabi i Uwe“ ist, bis auf die Widmung, weniger gelesen geblieben: Lothar von Seltmann kann kein Polnisch.

In Lemberg hat Boris Dorfman sie gemeinsam durch die Stadt geführt, „ohne zu wissen, dass daraus einmal ,A Mentsh’ wird“, erinnert der Vater an den Film, den sein Sohn später produzieren wird. Mit Helene Weinmann hat Lothar von Seltmann eine messianische Jüdin porträtiert — bis nach Jerusalem hat ihn die Recherche geführt. Während Uwe von Seltmann seine ersten Begegnungen mit dem Jiddischen fast zu Fuß erreichen konnte: Das war nämlich bei den Folk Nights im Ferndorfer O.T.-Heim.

Zum Schluss

Was Sohn und Vater noch nie zusammen gemacht haben

Eine gemeinsame Autorenlesung von Vater und Sohn in Müsen? Der Senior liest im Vereinshaus, der Junior im Bürgerhaus – zu Hause würden sie sich in ihren Rollen als Autoren vielleicht gar nicht über den Weg laufen. Was jetzt irgendwie auch nicht verwundert.