Siegen. Bei einem Gedenkspaziergang im Siegener Stadtgebiet wurden die Stolpersteine gereinigt, um an die Reichspogromnacht vor 80 Jahren zu erinnern.

Bemerkenswert, was ein Jahr so an Spuren hinterlässt auf einer Messingtafel. Wasser, ein spezielles Reinigungsmittel und reichlich Putzen mit einem Topfschwamm verwandeln das unansehnlich dunkel gewordene Quadrat im Pflaster vor dem „Café Noir“ am Kornmarkt wieder in ein Objekt, an dem der Blick der Passanten unweigerlich hängenbleiben muss. Optisch „stolpern“ sozusagen. Nicht weit vom Siegener Rathaus erinnert einer von fast 100 Stolpersteinen im Stadtgebiet an die Familie Kessler; jüdische Mitbürger, die in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft ermordet wurden. Studenten haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Tafeln für das Gedenken am 9. November zu reinigen. Zur Erinnerung und „um die Gesellschaft ein wenig zu provozieren“. Zur Aktion „Stolpersteine putzen – antifaschistischer Gedenkspaziergang“ hatte das „antifaschistische Bündnis Uni Siegen“ eingeladen.

Haltung zeigen gegen Rechts

Am Freitag jährt sich zum 80. Mal die Reichspogromnacht, in der die Verfolgung der Juden im damaligen Deutschen Reich eine neue Qualität bekam. Bis zum 9. November 1938 war die andauernde Drangsalierung noch mit einer gewissen Zurückhaltung erfolgt. Der Anschlag auf den deutschen Diplomaten vom Rath in Paris gab dann den Vorwand, im Reichsgebiet den „gerechten Volkszorn“ gegen Synagogen und Geschäfte zu entfesseln. Die Staatsmacht ließ Fenster einschlagen und Feuer legen. Was an diesem Tag und danach mit den Juden im Reich geschah, daran erinnern und mahnen Stolpersteine, die am 9. November ins Auge fallen sollen.

Das Bündnis hat zum zweiten Mal zur Aktion eingeladen – 2017 kamen rund 100 Personen. „Auch Familien mit Kindern“, wie sich Helen Schneider erinnert, die eine der vier Gruppen leitet, die mit Eimern und Schwämmen durch die Straßen ziehen. Diesmal sind es nur knapp über 30. Grundsätzlich sei jeder willkommen, „wenn er nicht rechtes Gedankengut verbreitet“. Wichtig sei es, Haltung zu zeigen gegen rechte Gesinnungen, „gerade in der heutigen Zeit“, sagt Schneider.

Sie und ihre Mitstreiter haben sich die Oberstadt vorgenommen, vom Kornmarkt bis zum Marburger Tor, wo etwas mehr als ein halbes Dutzend der kleinen Tafeln liegen und an Menschen erinnern, die einst hier gelebt und gearbeitet haben. Einige putzen, eine liest die jeweilige Geschichte vor. Damit ein Bild entsteht zu den Namen, die dort von der Patina eines Jahres und dunkler Geschichte befreit werden.

Tafel verschwunden

Getroffen haben sie sich am Siegener Bahnhof. Wo eigentlich eine Gedenktafel für die Transporte Richtung Vernichtungslager hängen sollte, aber seit den Umbaumaßnahmen nicht mehr vorhanden sei, bedauert einer der Teilnehmer. Auch in der Bahnhofstraße sei im Laufe jüngerer Bauarbeiten ein Stolperstein verschwunden und bislang nicht ersetzt, fügt er an. Dann geht es los, zu der Aktion, die vorsichtshalber bei der Polizei angemeldet wurde, „falls wir von Leuten des ‚Dritten Weges’ angemacht werden“. Vor einem Jahr habe es Ärger mit einem Anlieger gegeben.

Ansonsten kann er auf unterschiedliche Erfahrungen verweisen. Voriges Jahr habe eine Frau zugesehen und betont, mit diesen Dingen ja nichts zu tun zu haben. Eine andere habe sich erinnert, wie ihr Vater jene Juden, an die mit den Steinen erinnert wird, aufnahm und bei ihrem Abtransport gerufen habe, „dann könnt ihr mich ja auch gleich mitnehmen“.

In der Oberstadt gibt es an diesem Tag nur wenige Reaktionen. Ein junges Paar vor dem Café Noir schaut einige Momente wortlos zu, dann versinken die beiden wieder in ihrer Konversation. „Irgendwie unbeholfen“, findet eine der Studentinnen, möchte den beiden aber keinen Vorwurf machen. Zwei Autos passieren den Ort, die Fahrer verlangsamen und schauen. Fragen stellen auch sie nicht. Später, in der Marburger Straße, kommt es immerhin zu einem Dialog mit einem Passanten.

Von Geschichte beeindruckt

Die Teilnehmer sind beeindruckt. „Das hier ist mein täglicher Arbeitsweg“, sagt eine junge Frau. Sie achte sehr bewusst auf die Stolpersteine in der Marburger Straße. Aber das gerade Gehörte habe sie noch einmal tief beeindruckt. Sie meint die Geschichte der 66-jährigen Frieda Löwenstein und ihrer 39-jährigen Tochter Betty, an die vor der „Flocke“ erinnert wird. Sie nahmen sich am 14. November 1938 das Leben, nachdem ihre Männer im Rahmen des Pogroms verhaftet worden war. Sie glaubten nicht, die beiden wiederzusehen. Als die Männer 14 Tage später doch zurückkehrten, brach der 64-jährige Siegfried Löwenstein zusammen und beging etwas später Suizid. Eltern und Tochter sind auf dem jüdischen Friedhof in der Hermelsbach beerdigt. Schwiegersohn Hermann Windecker konnte 1939 in die USA fliehen.

In der Hermelsbach werde ja zentral an die jüdischen Opfer erinnert, betont eine Teilnehmerin, die ein gespaltenes Verhältnis zu den Stolpersteinen äußert. Einerseits finde sie die spezielle Form der Erinnerung an die einzelnen Menschen gut, „andererseits werden sie ja irgendwie auch besudelt“, wie gerade an der starken Verschmutzung der Steine wieder deutlich werde. Alles nicht so einfach eben.

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