Siegen.. Interview mit Kreisarchivar Thomas Wolf: Über eine Zeit des Umbruchs in der politischen Kultur und wie Schülerinnen ihre Rektorin absetzten.
Vor 50 Jahren teilte sich die deutsche Nachkriegsgeschichte: in die Zeit vor und die Zeit nach ‘68. Wie dieser Schnitt im Siegerland ablief, thematisierte das Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein in Zusammenarbeit mit dem Historiker Dieter Pfau in der Reihe „Zeitzeugen auf Zelluloid“. Florian Adam sprach mit Kreisarchivar Thomas Wolf über besondere Ereignisse und prägende Entwicklungen.
Wie passen die 68er ins vermeintlich verschnarchte Siegerland der 1960er Jahre?
Dass hier, überall wie im eher ländlichen Raum, eher traditionelle Sichtweisen vorherrschten, ist klar. Hier hat vielleicht nicht die große Revolution stattgefunden, aber ein spürbarer Bewusstseinswandel. Das Siegerland kommt da in einer Breite in Bewegung, die man so vielleicht nicht erwartet hätte. Aber man darf dem Siegerland auch nicht unterstellen, so konservativ gewesen zu sein. Es gab hier schon immer ein starkes Bürgertum, das eben nicht verschnarcht war – und immer schon Strömungen außerhalb pietistischer Enge.
Also gute Voraussetzungen für einen Wandel?
Einerseits entwickelte sich eine neue Jugendkultur, andererseits gab es eine Hinwendung zur politischen Kultur, auch zur Protestkultur – wenn auch nicht so wie in den großen Städten. Ich will nicht von „Radikalisierung“ sprechen, aber es entwickelte sich ein stärkeres politisches Bewusstsein.
Fangen wir doch mit der Jugendkultur an . . .
Der WDR-Film „Siegen – Notizen zu einer Stadt“, den wir gestern bei „Zeitzeugen auf Zelluloid“ unter anderem gezeigt haben, endet damit, dass es eine Beatveranstaltung in der Siegerlandhalle gab . . .
... den Tanz für die Jugend.
Das sah zwar eher aus wie ein Tanztee und war vielleicht nicht so ekstatisch wie ein Rolling Stones-Konzert – aber immerhin. Damit fängt es an.
Und politischer Protest?
Da tat sich einiges. Beim NPD-Landesparteitag 1968 in Siegen gab es tatsächlich Szenen, die an die große Protestkultur erinnern: mit Polizei und Studenten, die über die Hauptstraßen ziehen. Oder es gab die zwei Sit-ins in Weidenau und in der Oberstadt: Protest junger Leute, weil die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen zu langsam war mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Einführung von Fachhochschulen. Und natürlich gab es den Schülerinnenstreik 1969, an deren Ende die Leiterin der Schule für Höhere Töchter im Lyz gehen musste. Auch Dinge wie Schülermitverwaltung sind in dieser Zeit entstanden.
Wie war das mit dem Schülerinnenstreik?
Der hat sich 1969 am autoritären Führungsstil der Schulleiterin entzündet. Dieser Protest fand bundesweit Beachtung. Die Mädchen haben die ungeliebte Rektorin tatsächlich abgesägt. Heute würden Eltern in so einem Fall Briefe an die Bezirksregierung schreiben. Damals nahmen die Schülerinnen das selbst in die Hand. Ich weiß nicht sicher, inwieweit das politisch war. Aber ‘68 war genau der Punkt, wo diese junge Leute merkten: Die Situation ist für uns schlimm – aber wir haben eine Chance, etwas zu ändern. Sie sahen, dass es nicht von Nachteil für sie ist, wenn sie ihre Kritik äußern, und haben sich bewusst gegen Dinge aufgelehnt, bis sie ihr Ziel erreicht haben.
Das klingt nicht sonderlich radikal. Eher pragmatisch.
Es waren meist keine Rudi Dutschkes, die hier rumliefen. Sondern Leute, die konkrete Ziele hatten. Und sie sahen: Es funktioniert.
Auf Bundesebene ist die 68er Bewegung gut dokumentiert. Wie sieht es lokal aus?
Da sind wir noch am Anfang. Wir sind zeitlich noch relativ nah dran. Ein Jubiläum – wie jetzt die 50 Jahre – bietet sich an, um das aufzugreifen. Man findet aber nicht so viel Material wie in größeren Städten.
Warum?
In den Großstädten gibt es mehr, weil dort die großen Medien sitzen. In den ländlichen Regionen gibt es weniger, aber das ist bei uns nicht anders als beispielsweise im Münsterland. Die Frage „Was ist damals vor Ort passiert“, die stellt man da auch nicht unbedingt als Forschungsauftrag. Außerdem gibt es nicht so spektakuläre Bilder wie die von großen Krawallen. Regional ist es außerdem oft nicht so sehr wahrgenommen worden, weil es betulicher abging: Und so etwas finden Sie dann nicht in den Akten, die wir hier im Archiv haben.
Wieso nicht?
Es gab in Siegen zum Beispiel einen Republikanischen Club. Aber dessen Unterlagen haben wir nicht. Für so etwas müssten wir an Privat-, teilweise an Vereinsunterlagen herankommen; oder an Mitschriften von irgendwelchen Gruppentreffen, die eine Binnensicht ermöglichen. Wir wissen manchmal, dass es bestimmte Gruppen gab. Aber wir wissen nicht, wie sie funktionierten – und das ist schade. Da ist viel Material im Privaten verortet, was wir gerne in öffentlichen Archiven hätten. Einiges davon wird stattdessen aber irgendwann einfach weggeworfen, weil die Leute nichts mehr damit anfangen können. Außerdem gibt es bei manchen Menschen eine sehr starke Zurückhaltung. Dafür muss man Verständnis haben – gerade weil es um eine Bewegung geht, die gegen Verwaltung und Establishment arbeitete.
Zurückhaltung?
Es gibt Gruppierungen, die nicht unbedingt mit einer öffentlich-rechtlichen Stelle zusammenarbeiten wollen. Gerade in Zusammenhang mit den 68ern, da sind schließlich einige Menschen vom Staat beobachtet worden. Auch, wenn wir als Archiv natürlich Vertreter des Staates sind: Uns ist es wichtig, Material zu bekommen, weil wir sonst einen Aspekt regionaler Geschichte nicht so in den Fokus nehmen können, wie wir gerne würden. Wir arbeiten aber sehr gut mit den freien Archiven zusammen und vermitteln auf Wunsch auch an diese.
Die dezidierte Erforschung scheitert aber nicht nur an fehlendem Material?
Nein. Wir würden das gerne machen. Dafür fehlen uns aber Geld, Zeit und Personal, denn das ist nur mit hohem Aufwand zu bewältigen. Wir können jetzt aber Material sichern und so wenigstens die Basis für künftige Erforschung schaffen. Darum auch unser Aufruf, Material und Unterlagen, Plakate, Bilder bei uns abzugeben. Es wäre sträflich, die Aufmerksamkeit, die das Thema zur Zeit genießt, nicht dafür zu nutzen.
Welche Wirkung hatte 68 langfristig im Siegerland?
Die Menschen erkannten, dass sie für sich und die Region etwas erreichen können, auch wenn sie dafür dicke Bretter bohren müssen. Und im Nachgang von 68 haben sich andere Bewegungen ausprägen können: Frieden, Anti-Atom, Umwelt.