Oberdielfen. . Die Krankenschwester aus Wilnsdorf ist Sternenkind-Fotografin. Sie fotografiert Tot- und Fehlgeburten, wenn Eltern oder Krankenhäuser sie anrufen

Die Kapelle ist geschmückt, blaue Blumen umsäumen den kleinen weißen Sarg. Paul-Luca ist darin gebettet. Er ist im Bauch seiner Mama eingeschlafen und nie wieder aufgewacht. Die Stimme von Sarah Connor hallt durch die Kapelle. „Und wenn du mich vermisst, such mich da, wo Liebe ist.“ Kerzen spenden in diesem dunklen Moment Licht und Hoffnung. Die Hoffnung, dass es Paul-Luca an einem anderen Ort besser geht. Dass er glücklich ist.

Die Initiative

Kai Gebel hat die Initiative „Dein Sternenkind“ Anfang 2013 ins Leben gerufen. Das Ziel: Erinnerungsfotos als ein Geschenk für Eltern, die entweder ein bereits totes Baby auf die Welt bringen müssen oder denen der Tod des Neugeborenen unausweichlich bevorsteht. Die Initiative ist 2017 mit dem Deutschen Ehrenamtspreis ausgezeichnet worden.


600 Fotografen engagieren sich deutschlandweit sowie in der Schweiz und Österreich ehrenamtlich. Um mitwirken zu können, müssen sich die Fotografen bewerben und Arbeiten vorzeigen.

2000 Sternenkinder werden die Ehrenamtlichen 2018 vermutlich insgesamt fotografieren, sagt Oliver Wendlandt von der Initiative. Das entspricht zehn bis 15 Kindern pro Tag.

2 Minuten dauert es durchschnittlich, bis einer der 20 Koordinatoren auf eine Anfrage reagiert und sich mit der Klinik in Verbindung setzt, um Details abzusprechen. Weitere 15 Minuten vergehen im Schnitt, bis sich ein Fotograf meldet und bereit ist, loszufahren. „Wir haben nur ein kleines Zeitfenster – besonders, wenn die Kinder noch sehr klein sind“, sagt Wendlandt. Das Siegerland liegt in drei sogenannten Alarmkreisen: Rund 100 Fotografen werden per App alarmiert, wenn es hier einen Einsatz gibt. Einer übernimmt den Einsatz schließlich.

1 Formular gibt es auf der Webseite, das von Betroffenen ausgefüllt werden muss, damit die Helfer alarmiert werden. Aber auch ein Anruf aus dem Krankenhaus oder der Alarm per App ist möglich.

Paul-Luca ist ein Sternenkind. Er kam tot auf die Welt. „Ihm war die Welt zu klein. Er wollte mehr“, sagt sein Papa Michael. In der 24 Schwangerschaftswoche bekommt seine Frau Sofie (Namen von der Redaktion geändert, die Eltern möchten anonym bleiben) plötzlich Bauchschmerzen. „Ich hatte ein komisches Gefühl“, sagt sie. Die Hebamme kann keinen Herzschlag feststellen; ein Arzt wird gerufen. „Ihr Kind ist tot“, sagt er kurze Zeit später. Ein Schock von dem sich das Ehepaar bis heute erholen muss. „Wir haben wirklich nicht damit gerechnet“, sagt Sofie.

Absolutes Gefühlschaos

Die Bauchschmerzen sind Wehen, denn Sofies Körper versucht, den toten Organismus, der nun ein Fremdkörper ist, abzustoßen. Es folgen traumatische Stunden. Sofie muss Paul-Luca auf natürlichem Weg gebären – das, so versichern ihr die Ärzte, gehöre zum Verarbeitungsprozess. Es ist 4.42 Uhr als der kleine Junge auf die Welt kommt. Sofies Körper schüttet Glückshormone aus, doch Paul-Luca schreit nicht. Schmerz, Trauer und Wut erfüllen die Mutter. Sofie durchlebt ein Gefühlschaos. Sie muss in den OP, wird ausgeschabt. Das Baby bleibt bei der Hebamme. Sie nimmt Fußabdrücke – so, wie bei jedem anderen Baby auch. Doch Paul-Luca ist nicht wie andere Babys. Er ist tot. Jetzt ist es real. „Man ist nervlich so am Ende, weiß nicht vor oder zurück“, sagt Michael.

Das erste und letzte Foto

Gegen halb 8 Uhr kommt die Wilnsdorferin Verena Maier-Rübsamen im Krankenhaus an. Sie engagiert sich ehrenamtlich bei der Initiative „Dein Sternenkind“ und fotografiert Tot- und Fehlgeburten. Die Familie hat sie über einen Notruf alarmiert. Alle wissen: Es wird das erste und letzte Foto von Paul-Luca. Doch es ist den Eltern wichtig, ein würdevolles Andenken an den Kleinen zu haben. „Erinnerungen vergehen. Egal, wie schlimm es ist: Ich bin da und halte den Moment fest“, sagt Maier-Rübsamen.

„Ich hatte Angst davor, wie er aussieht. Ich hatte ihn vorher ja nie gespürt“, erklärt Vater Michael. Er überwindet seine Furcht und nimmt seinen Sohn auf den Arm. der Kleine ist zerbrechlich, hat hauchdünne Haut, winzige Fingernägel und große Füße. „Er hätte nur wachsen müssen“, sagt Michael verzweifelt.

Abschied und große Ängste

Der Abschied naht. „Wir haben gefragt, ob wir ihn noch 30 Minuten halten dürfen“, sagt Sofie. „Die Hebammen waren sehr verständnisvoll.“ Doch um 9 Uhr ist es so weit: Eine Seelsorgerin bereitet eine rührende Zeremonie vor. Paul-Luca liegt in einem Bettchen, neben ihm eine Kerze mit einem Schmetterling. Dann nehmen sie ihn mit. Sofort machen sich bei den Eltern Ängste breit. Sofie sagt: „Ich hatte Angst, dass das Baby auf den Müll kommt.“ Unberechtigt, aber bis 2014 sah es das Gesetz so vor. Noch am selben Tag spricht das Paar mit einem Bestatter und sucht einen Sarg für seinen Liebling aus.

Vermissen, trauern, erinnern

Michael und Sofie durchleben alle Trauerphasen. Erst habe sie der Verlust enger zueinander gebracht, sagt Michael. Doch dann kamen die Auseinandersetzungen. Das Ehepaar muss sich neu finden. Jeder trauert anders. „Ich kann die Bilder noch nicht ansehen, aber ich finde es beruhigend, dass es sie gibt. Ich kann sie holen, wenn ich Sehnsucht habe“, sagt Michael. Ist die Trauer zu groß, zünden die beiden ein Hoffnungslicht an.

Verena Maier-Rübsamen aus Wilnsdorf engagiert sich ehrenamtlich bei der Initiative
Verena Maier-Rübsamen aus Wilnsdorf engagiert sich ehrenamtlich bei der Initiative "Dein Sternenkind". © Privat

„Wir hatten Angst, es allen erklären zu müssen“, sagt Michael. Doch es kommt anders: Nachbarn meiden die beiden. Das Paar wird ignoriert; niemand weiß, was er sagen soll. Es gebe keine richtigen oder falschen Worte. Eine Umarmung helfe. Schnell wird klar: Bekannte haben dieselbe Erfahrung gemacht, doch niemand redet darüber. „Der Tod ist nicht gesellschaftsfähig“, sagt Maier-Rübsamen.

Kein Mutterschutz nach der Geburt

Sofie und Michael sind Eltern – auch, wenn das Gesetz es nicht so sieht. Obwohl Sofie eine Geburt hinter sich hat und unter Nachblutungen leidet, hat sie kein Recht auf Mutterschutz. „Eine Mama ist vor dem Gesetz keine Mama, wenn das Baby bei der Geburt weniger als 500 Gramm wiegt“, erklärt Verena Maier-Rübsamen. „Das macht mich sauer. Wir sind Eltern geworden – der Unterschied ist nur, dass wir unser Kind auf dem Friedhof besuchen müssen“, sagt Sofie.

Interview mit Sternenkind-Fotografin Vera Maier-Rübsamen

Seit wann engagieren Sie sich bei „Dein Sternenkind“ und wie sind Sie dazu gekommen?

Ich bin hauptberuflich Krankenschwester auf der Onkologie und nebenberuflich Fotografin. Seit drei oder vier Jahren bin ich auch ehrenamtliche Sternenkind-Fotografin. Meine Intention: Meine Tante hat 1971 ein totes Kind geboren und es nie gesehen. Darunter leidet sie bis heute. Ich habe recherchiert und bin auf „Dein Sternenkind“ gestoßen. Damit kann ich Familien helfen. Das Thema Sternenkinder ist tabuisiert, man redet nicht darüber. Aber ich kann mit Tod und Sterben umgehen.

Warum fotografieren Sie tote Babys? Worauf achten Sie?

Es ist wichtig, das ich festhalte, was ich sehe und fühle. Alles verschwimmt ja, Erinnerungen vergehen. Aber egal, wie schlimm es ist, ich bin da und halte es fest. Ich habe immer einen Fotovertrag dabei. Jeder Fotograf hat außerdem die Möglichkeit, sich von der Initiative ein Paket mit ehrenamtlich hergestellten Einschlagdecken, Kleidung und Stofftieren schicken zu lassen. Denn viele Krankenhäuser haben nichts Schönes und den Babys Puppensachen anzuziehen, das ist noch schlimmer. Nach dem Termin lade ich die Bilder auf den Server der Initiative – auf meiner Kamera lösche ich sie dann. Ich weiß nicht, ob die Eltern sich die Bilder jemals ansehen.

Wie läuft ein Einsatz ab? Wer alarmiert Sie?

Es gibt drei bis fünf aktive Fotografen im Siegerland, damit nicht einer allein die Last tragen muss. Wir haben eine Alarm-App und bekommen die Einsätze auf das Handy. Meist meldet sich die Institution, manchmal die Eltern. Wir erkundigen uns über den Einsatz und entscheiden , ob wir den Termin annehmen oder nicht. Im Forum stehen die Kontaktdaten und welche Fehlbildungen das Kind hat. Offiziell fotografieren wir nur totgeborene Kinder, aber wir sagen nicht nein, wenn es noch lebt, wenn die Eltern sich melden. Die Absprachen erfolgen im Hintergrund. Die Eltern haben nur einen Ansprechpartner. Wenn das Kind geboren ist, fahren wir los. Oft warten die Eltern, dass du kommst, als ob du etwas ändern könntest. Und dann lege ich los. Jeder Mensch ist schön, egal wie er aussieht. Das entsteht aus der Situation heraus.

Gibt es Termine, die Ihnen besonders schwer fallen?

Das, was wir dort zu sehen bekommen, ist nicht immer schön. Die Kinder sehen oft aus, wie aus dem Nest gefallene Vögelchen. Manchmal gibt es auch Entstellungen – Kinder mit nur einem Auge. Wenn du das vorher nicht weißt, dann ist es schwer. Ich kann das aushalten, ich rette mich mit meinem Wissen.

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Behutsam holt sie Bilderrahmen, Engel und Stofftiere aus einem Korb – alles, was ihr und Michael von ihrem Sohn geblieben ist. Wie einen Schatz hält sie die Gegenstände fest. „Die Fotos sind das Wertvollste, was man hat. Sie bedeuten mir unendlich viel.“

Der Blick nach vorn

Die beiden versuchen wieder im Alltag anzukommen. Regelmäßig besuchen sie ihre Sternschnuppe am Grab. Die Beerdigung des Kleinen sei schön gewesen. Alle Gäste hätten hellblau getragen, um diesem Moment die Schwere zu nehmen. „Uns ist ein Stein vom Herzen gefallen“, sagt Michael. Es sei beruhigend zu wissen, dass Paul-Luca Ruhe gefunden hat.

Die Obduktion des Kleinen hat gezeigt: Die Eltern hätten den Tod des Jungen nicht verhindern können. Ein Blutgerinnsel hatte die Nabelschnur verstopft. Beide wünschen sich weiterhin Kinder. Irgendwann wollen sie einen neuen Versuch wagen. Paul-Luca ist für immer in ihren Herzen. Als Beide neulich in den Himmel blickten, haben sie ihn gesehen: ihre kleine Sternschnuppe, die langsam am Himmel verblasste.

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