Kreuztal. . Vor 25 Jahren gründen zwei junge Sozialpädagogen in Kreuztal einen Verein, der sich mit dem überkommenen System der Behindertenhilfe anlegt.
Invema wird 25. Die Abkürzung steht für „Inklusion durch Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen“. Der Verein hat in seinem Jubiläumsjahr um die 230 Mitglieder. Gegründet wurde er von Stephan Lück und Thomas Pielhau. Steffen Schwab hat mit Stephan Lück, dem Geschäftsführer des Vereins, über Anfänge, Kämpfe, Meilensteine und Perspektiven gesprochen.
Was war eigentlich der Anfang von Invema?
Stephan Lück: Meine Zivildienstzeit – damals 24 Monate – habe ich in einem Wohnheim abgeleistet. Dort habe ich Thomas Pielhau kennen gelernt…
… der später bei der Lebenshilfe gearbeitet hat…
… und seit 2004 hier ist und den Bereich Ambulantes Wohnen aufgebaut hat. Wir wollten damals, im Zivildienst, etwas verändern. Ich bekam ein Disziplinarverfahren, weil ich mich geweigert hatte, einem jungen Mann den Bart abzurasieren, weil der „ihm nicht stand“. Nach dem Zivildienst habe ich Sozialpädagogik studiert. Auch in Praktika scheiterten wir immer wieder an veralteten Vorstellungen. Thomas Pielhau und ich haben erlebt, dass ein Zivildienstleistender nicht eingestellt wird, weil der erzählte, dass er auch schon mal mit einem Bekannten mit Behinderung abends in die Kneipe gehe. Also: Wir haben die Erfahrung gemacht, woanders etwas zu verändern, ist ganz schwierig bis unmöglich. Das ging mehrere Jahre so, bis die ersten Ideen aufkamen: Man müsste etwas Eigenes machen. Als wir den Verein gegründet hatten, war noch gar nicht klar, was wir inhaltlich machen würden. Wir wollten eigentlich nur darauf aufmerksam machen, dass das bestehende System der Behindertenhilfe Menschen ausgrenzt aus der Gesellschaft. Wir wollten deutlich machen, dass es auch anders gehen kann beziehungsweise muss.
Der Verein mit dem ganz sperrigen Namen, der sich nicht von selbst erklärt. Damit sind wir im Jahr 1993, da waren Sie 27.
Das war wirklich eine lange Geburt. Im Namen sollte alles stehen, was uns wichtig ist: Integration, Normalisierung, Verbesserung der Lebensbedingungen.
Was wurde Ihr erstes Thema?
Wir sind mit Öffentlichkeitsarbeit gestartet. Im Dezember 1994 haben wir eine Veranstaltungswoche zum Thema Integration gemacht, unter anderem mit einer Podiumsdiskussion. Da hat es richtig geknallt, und von da an war die Stellung von Invema im Kreis Siegen-Wittgenstein klar. Die Fronten waren geklärt. Wir wollten etwas anderes als Sondereinrichtungen, wir waren die Außenseiter. Und das blieb so fast bis zur UN-Behindertenrechtskonvention von 2006. Dieselben Leute, die damals gegen uns argumentiert haben, sind heute alle Inklusionsbefürworter - das ist manchmal schon skurril.
Sehr bald nach der Vereinsgründung ging es dann um den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung.
In der Veranstaltungswoche habe ich die ersten beiden Eltern kennen gelernt, die sich für ihre Kinder eine „normale“ Regelschule wünschten. Die Kinder wurden 1996 an der Grundschule Buschhütten eingeschult, ein Jahr nach der Änderung des Schulgesetzes, durch die integrativer Unterricht möglich wurde. Zuerst haben wir uns auf die Suche nach einer Schule gemacht, die dazu bereit war. Das war nicht einfach. 1996 haben wir auch die ersten beiden Zivildienstleistenden als Integrationshelfer eingestellt.
Von den etablierten Verbänden wurden Sie als Konkurrenz empfunden…?
Weil wir aus deren Sicht gegen sie gearbeitet haben, weil wir gegen Sondereinrichtungen waren.
Die es ja alle nicht mehr gäbe, wenn Sie Ihre Ziele verwirklichten.
Man braucht aber die Mitarbeiter mit Fachwissen. In den Schulen werden die Sonderpädagogen weiterhin benötigt, nur in einem veränderten Umfeld.
War der Gemeinsame Unterricht denn mit dem ersten Jahrgang in Buschhütten etabliert?
Noch lange nicht. Erst 2005 wurde zum Beispiel im neuen Schulgesetz festgelegt, dass der Schulträger, also die Kommunen, nichts mit den Kosten der Integrationshelfer zu tun haben, sondern das für die Eingliederungshilfe zuständige Sozialamt, mittlerweile auch das Jugendamt des Kreises. Bis dahin wurde gestritten. Die ersten Eltern waren alle vor Gericht, die ersten Zivildienstleistenden haben der Verein und die Eltern selbst bezahlt, bis der Kreis die Kosten zumindest auf Widerruf übernahm. Der zweite Kampf war der, für jedes einzelne Kind überhaupt einen Platz in der Regelschule zu bekommen. Man musste Schulen und Lehrer finden, die das wollten – vom Schulamt wurde niemand dazu gezwungen. Und man musste das Schulamt überzeugen. Wir haben uns mit den Eltern oft an die Presse gewandt und in einzelnen Fällen haben wir sogar den Petitionsausschuss des Landtags eingeschaltet. Den Rechtsanspruch auf „Beschulung“ in einer Regelschule gibt es ja erst seit 2013.
Was ist eigentlich aus den beiden ersten Kindern geworden?
2000 stand die Frage an, wie es nach der Grundschule weitergeht. Wir haben vor dem Kreuztaler Rathaus und im Schulausschuss demonstriert. Am Ende hat sich dann die Hauptschule Buschhütten bereiterklärt, die nun insgesamt fünf Kinder aufzunehmen – die beiden ersten hatten in der Grundschule ein Jahr wiederholt, drei waren im folgenden Schuljahr dazugekommen. Sie wurden aber nicht in eine Klasse integriert, sondern bildeten eine sonderpädagogische Fördergruppe. Nach dem Ende der Schulzeit wünschten sich die Eltern eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Zu dieser Zeit entstand unsere Initiative, einen betrieblichen Berufsbildungsbereich zu gründen. Mit Mitteln, die Landschaftsverband und Arbeitsamt sonst in einen Platz in einer Werkstatt für Behinderte gesteckt hätten, wollten wir eine Arbeitsassistenz finanzieren. Keiner war bereit, sich darauf einzulassen. Über Bastian Kopta – das war der Erste im gemeinsamen Unterricht – hat damals auch das Fernsehen berichtet. Wir hatten sogar angeboten, alle Kosten zu erstatten, wenn wir es nicht schaffen, wenigstens einen aus dieser Maßnahme in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren. Allein die Werkstattkosten, die für das Berufsleben eines einzigen Menschen mit Behinderung aufgewendet werden, waren höher als das, was wir als Zuschuss beantragt hatten. Bastian war eine ganze Zeit arbeitslos. Jetzt ist er in der Werkstatt. Wie alle anderen auch.
Ist das mittlerweile anders?
Das wird jetzt hoffentlich anders. Man hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten weiterentwickelt bei der Integration in den Arbeitsmarkt, was Menschen mit einer Sinnesbeeinträchtigung oder einer psychischen Beeinträchtigung angeht. Da gibt es Integrationsbetriebe, den Integrationsfachdienst, viele Projekte. Aber Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung verschwinden nach wie vor, von Ausnahmen abgesehen, in der Werkstatt. Das neue Bundesteilhabegesetz hat das Budget für Arbeit zum 1. Januar 2018 eingeführt. Jetzt könnten wir, weil auch andere Anbieter zugelassen werden, unser Konzept, das wir vor zwölf Jahren vorgelegt haben, noch einmal einbringen und könnten es wahrscheinlich auch umsetzen.
Könnten…?
Wir haben vor drei Jahren entschieden, nicht weiter zu wachsen. Hier ist kein einziger Schreibtisch mehr frei. Es ist ohnehin schon schwierig, Mitarbeiter zu finden, die wirklich hinter unserem Leitbild stehen und die auch angemessen zu begleiten.
Die großen Lebensbereiche decken Sie nun ab: Schule, betreutes Wohnen, Freizeit. Den Bereich Arbeit haben Sie ausgeklammert.
Wir haben wenige Arbeitsassistenten, die Menschen auf dem regulären Arbeitsmarkt begleiten. Das ist aber nur ein sehr kleiner Bereich.
Wie viele Mitarbeiter haben Sie inzwischen?
Ungefähr 200 fest angestellt, weitere 180 auf Stundenbasis. Hier im Haus sind die zwölf Leitungskräfte und Verwaltungskräfte für jeden Arbeitsbereich.
Ein richtiges Sozialunternehmen. 2008 sind Sie in ihr eigenes, neu gebautes Haus neben der Jugendbegegnungsstätte in der Roonstraße eingezogen.
Finanzieren konnten wir das mit 80 Prozent Zuschüssen der Stiftung Wohlfahrtspflege und der Aktion Mensch.
Wann haben Sie eigentlich die Seite gewechselt: vom Außenseiter zum Etablierten?
Wir haben immer noch eine besondere Stellung, weil wir als einzige eine ganz klare Vorstellung von Inklusion haben und die auch knallhart durchziehen. Das fällt uns leicht, weil wir nie etwas anderes gemacht haben. Wir mussten uns im Gegensatz zu allen anderen nicht umstellen, als die UN-Konvention in Kraft trat. Aber man nimmt uns jetzt ernster, betrachtet uns nicht mehr als Störenfriede. Manchmal sitze ich aber auch heute in den Gremien mit einem komischen Gefühl. Ich glaube, dass das, was nach außen nun von allen gewollt wird, nicht das ist, was man wirklich will.
Die sind nicht ehrlich, handeln nur, weil sie müssen? Was Sie dann auch durch den Kurswechsel der Landesregierung bei der Inklusion an Schulen bestätigt sehen könnten?
Das ist ein Rückschritt. Man merkt, dass Inklusion in den Köpfen und in den Herzen noch nicht wirklich angekommen ist. Wer Inklusion will, sucht Wege. Wer sie nicht will, sucht Begründungen. Das hat ein früherer Bundesbehindertenbeauftragter gesagt, und das ist noch immer so. Wir suchen immer noch Begründungen, warum etwas nicht geht, statt uns zusammenzusetzen und gemeinsam zu überlegen, wie wir es schaffen können. Jeder muss jetzt für Inklusion sein, häufig wird dann aber auch nur das, was man schon immer gemacht hat, mit einem neuen Etikett versehen. Das bereitet mir Bauchschmerzen.
Was sind denn Ihre nächsten Kämpfe?
Im Bereich Schule müssen wir wieder viel politischer und öffentlichkeitswirksamer werden, um für die Qualität im gemeinsamen Unterricht zu kämpfen. Im Bereich Wohnen und Freizeit werden wir nichts verändern. Schon seit ein paar Jahren betreut jede Leitungskraft im Bereich Freizeit um die 50 Familien, um mit ihnen gemeinsam zu schauen, wo ihr Kind im eigenen Umfeld, im Turnverein, im Fußballverein wirklich integriert werden kann. Auch da ist ein Konflikt zu lösen: Die Eltern möchten Entlastung, wir möchten Inklusion für das Kind. Die Mittel, die die Eltern haben, sind aber begrenzt. Sie müssen entscheiden, zu einer Zeit, wo sie den Einsatz eines Mitarbeiters eigentlich nicht benötigen, in Teilhabe ihrer Kinder zum Beispiel . am Vereinsleben zu investieren, oder an ihrem – zum Beispiel – Mittwochabend festzuhalten, um als Elternpaar allein etwas unternehmen zu können, während der Mitarbeiter ihr Kind betreut.
Was ja legitim ist.
Beides ist legitim und beides ist gleich wichtig! Zu fragen ist, wie viel die öffentliche Hand in die Entlastung von Angehörigen investieren möchte. Es ist schade, dass sich die Eltern zwischen Inklusion und Entlastung entscheiden müssen.
Und die Arbeitswelt?
Da sind wir noch ganz am Anfang. Insbesondere was die Teilhabe von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung betrifft. Wir werden hier erst mal schauen, was sich bei anderen Trägern entwickeln wird, die sich bereits jetzt schwerpunktmäßig den Bereich Arbeit bemühen.
>>> Veranstaltungswoche vom 25. bis 28. September – das Programm
„Gemeinsam Barrieren bewegen“ ist das Motto der Veranstaltungswoche, mit der Invema sein 25-jähriges Bestehen von Montag, 25. September, bis Freitag, 28. September, feiert.
Montag
Poetry-Slam-Wettbewerb: Die besten Slam-Poeten mit ihren Texten zum Thema „Inklusion & Teilhabe“; Moderation: Jan Schmidt.
Café Basico, 20 Uhr, (Einlass ab 19.30 Uhr
Dienstag
Podiumsdiskussion: „Mehr Selbstbestimmung und Teilhabe durch das neue Bundesteilhabegesetz auch in unserer Region?!“ Das Bundesteilhabegesetz wurde 2016 unter zahlreichen Protesten verabschiedet und tritt stufenweise bis 2023 in Kraft. Im Juli 2018 hat der Landtag das Ausführungsgesetz für Nordrhein-Westfalen verabschiedet. Dieses bringt zahlreiche Veränderungen für Menschen mit Behinderungen mit sich. Die Veranstaltung wird eingeleitet von Ottmar Miles-Paul von der „Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland“. Auf dem Podium sind vertreten: Reiner Jakobs von der Sozialplanung des Kreises Siegen-Wittgenstein, Andrea Arntz vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe sowie Anja Hillebrand (Bethel regional), Dr. Andreas Neumann (AWO) und Stephan Lück (Invema). Ausrichter sind Invema und das Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen. Die Diskussion wird geleitet von Prof. Dr. Albrecht Rohrmann vom ZPE der Uni Siegen.
Weiße Villa in Dreslers Park, 17 Uhr.
Mittwoch
Ausstellung: Landrat Andreas Müller eröffnet die Ausstellung des Schul-Malwettbewerbs „So bunt ist Inklusion“
Kreishaus Siegen, 15 Uhr
Donnerstag
Lesung: Sandra Roth liest aus ihrem Buch „Lotta Wundertüte“ und bringt auch ihr neues Buch „Lotta Schultüte“ mit, welches im Oktober erscheint.
Invema, Roonstraße 21, Kreuztal, 19.30 Uhr
Freitag
Konzert mit „Hörgerät“. Das Konzert wird begleitet von Gebärden-sprachdolmetschern. Special Guest: Rapper Graf Fidi aus Berlin.
Turn- und Festhalle Buschhütten: 19.30 Uhr (Einlass ab 19 Uhr)
Barrierefreiheit
Alle Veranstaltungen werden weitestgehend barrierefrei organisiert und finden in barrierefreien Räumen statt. Diverse Hilfsmittel und eine FM-Anlage für Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung sind ebenso vorhanden wie Materialien in Braille-Schrift und „einfacher Sprache“.
Bei allen Veranstaltungen sind Gebärdensprachdolmetscher vor Ort. Notwendige Assistenz kann bei Bedarf ebenfalls gestellt werden.
Damit wirklich alle Menschen an den Veranstaltungen teilnehmen können, fordert der Verein aber auch dazu auf,
individuelle Bedarfe im Vorfeld anzugeben, damit diese berücksichtigt werden können.