Siegen. Noch vier Jahre können nach dem Paragrafen 175 Verurteilte Entschädigung beantragen. Gerade im ländlichen Raum halten sich Betroffene zurück.

Vor gut einem Jahr hat der Bundestag die Verurteilungen nach dem Paragrafen 175 aufgehoben, der homosexuelle Handlungen zwischen männlichen Personen unter Strafe stellte. Steffen Schwab hat mit Joachim Moldenhauer von der Beratungsstelle im Siegener andersROOM gesprochen.

Worüber reden wir?

Joachim Moldenhauer: Über mögliche Entschädigungen für Personen, die in den Jahren 1945 bis 1994 nach dem Paragrafen 175 verurteilt worden sind. Dann ist der Paragraf 175 abgeschafft worden. Seit dem 22. Juli 2017 sind alle Urteile nach Paragraf 175 Strafgesetzbuch der BRD wie auch nach Paragraf 151 Strafgesetzbuch der DDR aufgehoben.

Wie viele Urteile waren das?

Dazu gibt es keine Zahlen. Man schätzt, zwischen 50000 und 100 000. Die meisten Verurteilten sind schon verstorben. Der verschärfte Paragraf 175 in der BRD galt bis 1969.

Verschärft heißt…?

Der Paragraf 175 war 1935 von den Nazis nach dem Röhm-Putsch verschärft worden. Danach reichte allein schon der „Verdacht“, schwul zu sein, um bestraft zu werden.

Das heißt, eine sexuelle Handlung musste gar nicht erst nachgewiesen oder bezeugt werden.

Nein, das Anschwärzen genügte.

Unter der sozialliberalen Koalition wurde dann 1969 ein Schutzalter eingeführt, so dass – ganz grob gesagt – über 21-Jährige nicht mehr bestraft wurden.

Die Handlung an sich war aber nach wie vor strafbar, und das wurde bis 1994, wenn auch nicht mehr in dieser Masse, weiterhin abgeurteilt.

Wie ist die Situation jetzt?

Am 22. Juli 2017 hat der Bundestag die Urteile aufgehoben. Jetzt besteht die Möglichkeit, eine Entschädigung zu beantragen. Der Staat geht also nicht automatisch auf die zu Entschädigenden zu.

Wie funktioniert das?

Man kann beim Bundesamt für Justiz den Antrag auf Entschädigungszahlung stellen. Das können für jedes Urteil 3000 Euro sein und 1500 Euro für jedes angefangene Jahr erlittenem Freiheitsentzug. Die Formulare kann man sich runterladen. In der Regel braucht man keinen Anwalt, um den Antrag zu stellen. Man muss das Urteil vorlegen oder, wenn man das nicht mehr hat, Zeugen benennen.

3000 Euro können jemandem, der mit einer kleinen Rente auskommen muss, sehr hilfreich sein.

Und der Eintrag im Führungszeugnis wird gelöscht. Sexualdelikte werden im erweiterten Führungszeugnis sonst das ganze Leben lang nicht gelöscht. Das ist wichtig für die Jüngeren und Mittelalten, wenn sie einen neuen Job brauchen und dafür das erweiterte Führungszeugnis vorlegen müssen.

Das ist aber dann doch nicht so einfach, wie es klingt.

Das Problem ist, dass nur die Verurteilten entschädigungsberechtigt sind. Alle diejenigen, gegen die ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und wieder eingestellt worden ist, was natürlich Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Erwerbsbiografie hatte, erhalten zurzeit noch keine Entschädigung. Da müsste nachjustiert werden. Zum anderen: Wir haben eine Frist bis Sommer 2022. Das Zeitfenster ist fünf Jahre groß, in dem man Entschädigung beantragen kann. Ein Jahr ist jetzt vorbei.

Wie sind denn die Erfahrungen bisher?

Bundesweit sind etwa 150 Männer entschädigt worden. Bei der Gesetzgebung ist man von einer Zahl von 5000 ausgegangen. Das ist natürlich noch recht wenig.

Was tun Sie?

Ziel ist, mehr Leute zu erreichen. Eine Hürde ist die Angst vor dem Wiedererleben, wenn man seine Verurteilung noch einmal schildern muss. Wir von der psychosozialen Beratung sind da, um die Leute ein Stück zu begleiten. Wir können über das Erlebte sprechen, ermutigen, Hilfe stellen, auffangen – um die Menschen in diesem Prozess einfach nicht allein zu lassen. Rechtliche Beratung können wir natürlich nicht leisten.

Ist die Beratungsstelle im Siegener andersROOM denn bei der möglichen Zielgruppe überhaupt bekannt?

Im Prinzip ja, in der betreffenden Altersgruppe aber wohl eher nicht. Deshalb werden wir jetzt Informationsmaterial an die Senioren-Servicestellen oder Sozialämter in den Kommunen in Siegen-Wittgenstein, im Kreis Olpe, im Märkischen Kreis und Hochsauerlandkreis senden. Diese vier Kreise sind von uns aus noch erreichbar, wenn es dort vor Ort einen Beratungsbedarf gibt.

Nun geht es aber um Menschen, die sich, gerade aufgrund der erlittenen Verfolgung, nie als homosexuell geoutet haben und die vielleicht besondere Schwierigkeiten haben, das jetzt zu tun.

Deshalb wollen wir auch Multiplikatoren erreichen, die in Senioren-Servicestellen arbeiten, die vielleicht auch Kontakt zu Pflegediensten haben. Vielleicht kennt ja jemand den einen oder anderen, den er ansprechen kann. Wir wollen die erste Hürde zumindest abmildern, weil das doch ein sehr sensibles Thema ist. Es ist wichtig, die Leute zu begleiten. Sie haben eine traumatische Erfahrung gemacht. Sie wurden für ihre Liebe verurteilt. Wer sich damit gedanklich erneut befassen muss, erlebt möglicherweise die damit verbundenen Ängste von neuem.

Gab es denn hier im Siegener andersROOM schon Begegnungen mit Menschen, die nach dem Paragrafen 175 verurteilt worden sind?

Zwei, die mittlerweile schon verstorben sind, ohne dass sie entschädigt worden sind, haben mit mir gesprochen. Bei einem hatte es sehr starke Auswirkungen auf die Erwerbsbiografie, weil er seine Stelle verloren hatte, einen viel schlechter bezahlten Job annehmen musste und daher nur eine Mini-Rente bekam.

Haben diese Männer denn offen schwul gelebt?

Ja, deshalb haben wir ja auch den Kontakt finden können. Sie haben ihr Schicksal öffentlich gemacht, und sie waren auch hier im Zentrum bei einer Veranstaltung unserer Jugendgruppe Yoho und haben aus ihrem Leben erzählt. Wir versuchen natürlich jetzt, auch die Leute zu erreichen, die wir noch nicht kennen.

Gibt es eine ungefähre Vorstellung, wie viele Betroffene im Raum Siegen Entschädigungsansprüche haben?

Zwischen 50 und 100 könnten das gut sein – rein rechnerisch. Natürlich sind viele in die großen Städte gegangen. Aber wir dürfen den ländlichen Raum in diesem Beratungs- und Begleitungsangebot deshalb nicht vernachlässigen.

Gibt es eine überregionale Zusammenarbeit?

Wir sind mit unserer Gruppe „40+“ Mitglied bei BISS, der Bundesinteressenvertretung schwuler Senioren. „40+“ sind schwule Männer über 40, die sich zwei Mal im Monat, am ersten und dritten Donnerstag im Monat, hier treffen. Bei BISS gibt es die Experten für die Wiedergutmachung, die uns beraten können.

1993 oder 1994 wurden die letzten Verurteilungen nach dem Paragrafen 175 ausgesprochen – ganz so alt sind die Betroffenen heute also nicht unbedingt.

Wenn die mit 18 oder 20 verurteilt wurden, wären sie jetzt erst 40.

Die sind dann ja noch einfach erreichbar.

Wenn sie geoutet leben und ein selbstbewusstes schwules Leben führen, ist der Zugang nicht schwierig. Aber gerade auf dem Land leben viele immer noch versteckt. Da ist Homosexualität ein Tabu-Thema. Wenn man verurteilt ist, gleich doppelt. So ein Stigma wiegt dann noch schwerer. Auch für die Jüngeren sind wir natürlich da.

Mittlerweile ist das schwer vorstellbar.

In der Jugendgruppe unseres Zentrums heute vielleicht weniger. Aber bei allen, die in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren erwachsen geworden sind, ist das schon noch ein Thema. Diese Generation ist allerdings auch mobiler als die ganz Alten, viele sind in die Städte gegangen. Aber es gibt schon noch Leute auf dem Land, die sehr zurückgezogen leben.

Haben eigentlich Jugendliche heute noch Interesse, sich mit der Vergangenheit in Zeiten des Paragrafen 175 überhaupt zu befassen?

Teilweise. Wenn man Angebote macht, Erzähl-Cafés zum Beispiel, dann werden die schon angenommen. Je weiter es weg ist, desto schwerer nachvollziehbar ist das natürlich für die nachwachsenden Generationen. Das betrifft die Gedenkkultur, zu der ich die Rehabilitation der Opfer des Paragrafen 175 auch zählen möchte, insgesamt. Je weiter das weg ist und je mehr Zeitzeugen sterben oder nicht mehr verfügbar sind, desto schwieriger ist die authentische Vermittlung. Es gehört aber zur Geschichte der deutschen Schwulen dazu.

Wie bekannt ist diese Rehabilitations-Thematik nach Ihrer Wahrnehmung eigentlich in der allgemeinen Öffentlichkeit?

Eher weniger. 2017 ging es durch die Medien. Deshalb müssen wir immer wieder neu an die Öffentlichkeit gehen, solange das Zeitfenster offen ist. Qua Gesetz sind die Urteile zwar gelöscht. Aber der persönliche Aspekt, die persönliche Genugtuung bleibt aus. In vier Jahren ist Schluss. Und viele sterben, ohne rehabilitiert und entschädigt worden zu sein.

Bis zu zehn Jahre Zuchthaus

Der Paragraf: Den Paragrafen 175 gab es von 1872 bis 1994, bestraft wurden sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts. Von 1935 bis 1969 galt eine verschärfte Fassung des Paragrafen: Allgemein strafbar wurden „unzüchtige Handlungen“, die Höchststrafe wurde von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis erhöht. Der Paragraf 175a für „erschwerte Fälle“, der ebenfalls von 1935 bis 1969 angewendet wurde, sah Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren Zuchthaus vor. Seit 1969 galt ein „Schutzalter“ von 21, seit 1973 von 18 Jahren — bei jüngeren Beteiligten wurden die Älteren bestraft. Das Schutzalter für Mädchen war auf 14 Jahre festgesetzt, das war die Altersgrenze auch für heterosexuellen Verkehr. Die DDR hatte den Paragrafen 151, der — anders als in der Bundesrepublik – auch homosexuelle Handlungen zwischen Frauen unter Strafe stellte; der „151“ wurde 1988 aufgehoben.

Die Rehabilitation: 2002 hob der Bundestag „nationalsozialistische Unrechtsurteile“ auf, neben der „Fahnenflucht“ auch die Verurteilungen nach dem Paragrafen 175. 2017 wurden auch die Verurteilungen nach 1945 aufgehoben, zugleich beschloss der Bundestag eine Entschädigungsregelung.

Beratung: Die Beratungsstelle im Siegener andersROOM ist unter 0271/5 32 97, und per E-Mail an beratung@andersroom.de erreichbar. Weitere Informationen hat auch die Bundesinteressenvertretung schwule Senioren (BISS), die die Entschädigungs-Hotline 0800/175 2017 und die Seite www.schwuleundalter.de betreibt.