Hilchenbach. . Hilchenbachs evangelischer Pfarrer Rüdiger Schnurr verabschiedet sich in den Ruhestand. Ihm fällt es schwer sich von der Gemeinde zu trennen.

Schon im letzten Oktober sind Schnurrs aus dem Pfarrhaus am Kirchplatz aus- und in die neue Wohnung nach Siegen umgezogen. Am 12. Januar 1989 wurde Rüdiger Schnurr in sein Amt eingeführt. Pfingstsonntag verabschiedet er sich mit einem letzten Gottesdienst von seiner Hilchenbacher Gemeinde. Mit 65 Jahren geht der evangelische Pfarrer in den Ruhestand. Steffen Schwab sprach mit ihm über seine fast 30 Jahre in Hilchenbach.

Hören Sie gern auf?

Ja und nein. Es fällt mit schwer, mich von der Gemeinde zu trennen. In 29 Jahren sind viele Kontakte gewachsen, Beziehungen, auch Freundschaften. Das wird mir sicher noch nachgehen. Auf der anderen Seite: Ich begleite den Weg unserer Kirche gerade sehr kritisch. Das ist nicht das, was ich mal als Weg der Kirche gesehen habe. So werden z.B. persönliche Begegnungen mit den Gemeindegliedern in Zukunft immer schwieriger werden.

Sie meinen die Zusammenlegung zu größeren Einheiten? Zurzeit hat die evangelische Kirchengemeinde Hilchenbach ja noch zweieinhalb, Müsen-Dahlbruch anderthalb Pfarrstellen.

Vielleicht wird langfristig nur eine Pfarrstelle in der ganzen Stadt Hilchenbach übrig sein.

Wie sähe die Alternative aus?

Die Weichen sind schon vor Jahren falsch gestellt worden. Wir waren damals die Babyboomer, die alle gleichzeitig in den Kirchendienst gegangen sind, und die werden jetzt alle pensioniert. Das hätte man sich überlegen können. So kam es, dass viele Studenten oder Vikare nach sieben oder acht Jahren Ausbildung auf einmal eine abgeschnittene Perspektive hatten, weil sie nicht in den kirchlichen Dienst übernommen wurden. So hat man dafür gesorgt, dass der Nachwuchs keine Lust aufs Theologiestudium hatte.

Andererseits werden ja auch die Gemeinden kleiner.

Aber Verantwortliche in den Kirchengemeinden müssen das Ziel haben, dass Gemeinde wächst oder bei zurückgehenden Bevölkerungszahlen zumindest der Stand gehalten wird. Das einzige Kapital, das wir haben, sind die Menschen.

Sie meinen, Kirche müsste so werden, dass Menschen Lust haben, dazuzugehören?

Und das geschieht über Beziehungen. Kirche stellt sich für die Menschen als die Kirche vor Ort dar. Das haben alle Umfragen und Studien der letzten Jahrzehnte bestätigt. Man kennt den Pastor oder die Pastorin der Gemeinde, zu der man gehört – was darüber hinausgeht, Kirchenkreis oder Landeskirche, ist eigentlich gar nicht im Blick.

Reicht das denn nicht?

Kirche ereignet sich vor Ort, da werden die Entscheidungen getroffen, zum Wohl der Menschen oder auch zu ihrem Ärger – das ist das Bild von Kirche, das ich von Jugend an habe.

Wann war für Sie eigentlich klar, dass Sie Pfarrer werden wollten?

In der Unterprima im Hilchenbacher Aufbaugymnasium. Ich hatte die ganz normale Siegerländer Sozialisation über Gemeinschaft und CVJM, Jungschar und Jungenschaft. Meine Eltern waren Hausmeister im Vereinshaus der Gemeinschaft Niederschelden. Und dann hatte ich einfach schon früh Interesse an der Theologie, ich wollte das Ganze für mich persönlich tiefer durchdringen.

Sie haben in Bethel und Göttingen studiert, waren Vikar in Neheim, hatten ihre erste Pfarrstelle in Oeventrop. Wann und wie kam dann Hilchenbach wieder ins Spiel?

Wir hatten in der Oeventroper Zeit eine Filiale in Rumbeck, in der katholischen Kirche, und da tauchten auf einmal drei fremde Gesichter im Gottesdienst auf. Sie gaben sich hinterher zu erkennen als im offiziellen Auftrag unterwegs Seiende, die mögliche Kandidaten unter die Lupe nehmen sollten.

Scouts?

Ich hatte mal gesprächsweise zu erkennen gegeben, dass ich mir da vorstellen könnte, ins Siegerland zurückzukehren. Das ist dann offensichtlich angekommen. Für meine erste Pfarrstelle wollte ich das auf keinen Fall, deshalb bin ich acht Jahre im katholischen Sauerland geblieben.

Warum?

Ich hatte irgendwo auch eine geistliche Enge gespürt, die oftmals auch mit einer geistigen Enge einherging, und wollte mich nach dem Studium erst einmal ausprobieren. Man ist hier schon unter großer Beobachtung.

Und dann?

Ich konnte mir das dann wieder vorstellen, spürte, dass Zeit für einen Wechsel war. Nach der offiziellen Bewerbung kam das Bewerbungsgespräch. Das war „härter“ als das erste und zweite theologische Examen. Es dauerte nicht lange, da kam z.B. die Frage, wie ich es mit der Verbalinspiration halte, also der Überzeugung, dass die Bibel wortwörtlich vom heiligen Geist eingegeben ist. Ich habe mich da nicht auf irgendein Glatteis begeben. Ich habe vielmehr auf Jesus Christus als die Mitte der Schrift verwiesen. Wenn diese Mitte feststeht, dann kann man über alles andere fröhlich streiten. Und dann kamen weitere solche Fragen von dem Kaliber, wo man merkte, hier stehst du wirklich auf dem Prüfstand. Aber im Grund war das auch das,was ich mir eigentlich gewünscht hatte: mit Menschen zusammenzukommen, die wissen, wovon ich rede.

Hatten Sie Mitbewerber?

Nein. Hans-Jürgen Uebach ist mit mir 1988 zur gleichen Zeit gewählt worden. Wir hatten uns vorher verständigt, dass ich mich um die Stelle in der Stadtmitte bewerbe und Hans-Jürgen Uebach für den Bezirk im oberen Ferndorftal mit Vormwald und Lützel.

Und Sie sind beide heute noch hier.

Wir sind hier gealtert. Was fehlt, ist ein jüngerer Kollege. Das ist für mich schmerzlich, dass so wenig an Perspektiven entwickelt worden ist.

Würde denn einer Ihrer jungen Kollegen vor einem Presbyterium, wie Sie es geschildert haben, überhaupt bestehen können?

Gibt es so zusammengesetzte Gremien denn überhaupt noch? Ich spüre eine Vernachlässigung der Theologie. Man hat zu viel mit sich selbst und der Lösung der ökonomischen Probleme zu tun.

Das hätten Sie als Fachmann fürs Theologische doch in der Hand.

Es wird aber auch nicht so sehr gewünscht. Theologie existiert auch immer in der Kritik am Bestehenden oder an dem Weg, der eingeschlagen wird. Das kann durchaus schon mal unbequem werden. Regionalisierung in der Kirche ist für mich aus theologischen Gründen ein Unding. Gemeinden werden klein gemacht, obwohl unsere Kirche sich von unten nach oben aufbaut. Eigentlich müssten die Gemeinden gestärkt statt immer mehr marginalisiert werden.

Was hat sich denn in Ihrem Leitungsgremium verändert?

Heute bilden Frauen die Mehrheit. Unser Presbyterium ist sehr aufgeklärt und sehr kompetent. Die meisten haben ein Gespür dafür, dass Kirche etwas anderes ist als ein Verein, dass wir eine Begründung für unser Tun haben, im Glauben und dann auch theologisch untermauert. Wenn es wirklich einmal zur Auseinandersetzungen in schwierigen Sachfragen kommt, ist letztlich immer noch die Frage: Was sagt denn die Bibel, was sagt Christus dazu? Es hat sich dann auch bald gezeigt, dass wir jungen Theologen eigentlich sehr schnell anerkannt waren und manche kritischen Stimmen besänftigt haben.

Die gab es also auch.

Sicher. Die waren nicht zu übersehen. Ein in der Gemeinschaft engagiertes Gemeindeglied sagte: „Bruder Schnurr, so wie Sie predigen, machen Sie die Gemeinde kaputt.“ Wahrscheinlich habe ich zu wenig über die Funktion des göttlichen Gerichtes gepredigt, sondern die Barmherzigkeit und die Liebe Gottes, die er zu den Menschen hat, herausgestellt. Den Leuten zu sagen, dass sie verlorene Sünder sind, wurde mehr erwartet. Es ist noch kein Mensch dadurch für das Reich Gottes erwärmt worden, dass man ihm die Hölle heiß gemacht hat.

Sie haben sich ziemlich früh für die Kinderbibelwochen stark gemacht – auch, um junge Menschen für die Kirche zu gewinnen?

Das ist ein Arbeitszweig, der sehr wichtig und wertvoll ist und mit dem man Menschen für Fragen des Glaubens erreichen kann. Ganz viele Ältere und Jüngere haben sich gemeinsam an dieses Projekt gemacht. Ein großer Prozentsatz der Kinder hat später selbst mitgearbeitet oder sich in anderen Bereichen der Gemeinde engagiert. Ganz viele persönliche Beziehungen und Freundschaften, bis hin zu Ehen, sind entstanden, und ganz viele sind, nachdem sie ihre Lebensplanung aus Hilchenbach weggeführt hat, wieder zurückgekommen, als eigene Kinder da waren.

Dann war da das Kirchenasyl Ende 1998: die armenische Familie aus Hilchenbach, deren Abschiebung auf diese Weise verhindert werden konnte.

Dass das überhaupt keinen Widerstand gegeben hat, wundert mich heute noch. Alle haben sich zusammengefunden und das zu ihrer Sache gemacht. Bei ganz vielen kam eine tief gegründete Überzeugung zum Tragen, was Werte sind, und ein Gespür, dass nicht alles, was ungesetzlich ist, ungerecht ist. Es entstand ein Bewusstsein, dass nicht alles, was der Staat macht, der Weisheit letzter Schluss ist. Das begann mit dem Gutscheintausch für die Asylbewerber…

… denen das Sozialamt kein Bargeld mehr auszahlte.

Da sind innerhalb der Gemeinde auch die Kontakte zu den Fremden entstanden. Es gab den Arbeitskreis Friedensdekade. Prof. Dr. Rainer Albertz ließ sich Mitte der 1980er Jahre ins Presbyterium wählen, als es an dem Beschluss festhielt, in der Kirche dürfe nicht mehr über den Frieden gepredigt werden. Die Friedensbewegten waren nicht so gut gelitten. Albertz wollte wissen, was der Engel denn dann an Weihnachten verkündigen würde… Durch den Friedenskreis wurde das Thema immer aufrechterhalten, sehr zum Missfallen vieler. Als wir jungen Kollegen alle Fuß gefasst hatten, war das kein Problem mehr, über diese Dinge auch zu sprechen. Nach vielen Anfangsschwierigkeiten genossen die Mitglieder des Friedenskreises eine gehörige Reputation, sie hatten den Kontakt zu der armenischen Familie, und deswegen war auch das Vertrauen da, dass dieser Einsatz gerechtfertigt sei. Das Presbyterium hat das Kirchenasyl mit einer Einstimmigkeit beschlossen, die mich selbst überrascht hat. Es gab Solidaritätsbekundungen, auch von Seiten der Politik.

Sie hatten eigentlich immer auch einen sehr guten Draht in die ganze Stadtgesellschaft hinein. Das hat sich ja dann auch, fast zur gleichen Zeit, beim Bündnis für Zivilcourage gezeigt, als die neuen Nazis in Hilchenbach auffällig wurden.

Im Grunde waren alle politischen Strömungen sich einig, vielleicht war das ihr kleinster gemeinsamer Nenner: Dass das, was da passiert, mit einem Leben in solidarischer Gemeinschaftlichkeit nichts zu tun hat.

Da sind Sie weit über das hinausgegangen, was von einem konservativen Pfarrer erwartet worden wäre.

Das sind wir im ganzen Kollegenkreis.

Es gab einen Konflikt mit der Diakonie.

Es ging letztlich um das Verhältnis gemeindenaher und wirtschaftlich orientierter Diakonie. Uns hat das bei der geplanten Schließung des Schülerheims betroffen. Da habe ich es auf den letzten Drücker hinbekommen, ein paar Fäden zu ziehen. Bei einer Schließung hätte das Diakonische Werk in Hilchenbach jegliche Reputation verloren. Die geschäftsmäßige Kälte hat mich erschreckt. Die Malteser haben das Haus dann übernommen.

Und auf einmal war das Haus katholisch… Was hat sich denn in den 29 Jahren im Bereich der Ökumene getan?

Wir hatten den Eindruck, dass nur darauf gewartet wurde, dass ökumenisch einiges geschieht. Wie geht man zum Beispiel bei konfessionsverschiedenen Ehen miteinander um? Auf evangelischer Seite waren viele traurig, dass ihnen eine gemeinsame kirchliche Trauung mit einem katholischen Partner verweigert wurde.Wir haben dann gemeinsame Bibelwochen gemacht, gemeinsame Gottesdienste wurden selbstverständlich, man nimmt sich auch mal gegenseitig Beerdigungen ab, wenn die Familie das wünscht. Was da von oben noch versucht wird zurückzudrehen, wird von den Gemeindegliedern längst nicht mehr honoriert.

Welche Rolle spielen die Begegnungen mit nicht christlichen Religionen?

Die Begegnungen sind bei uns noch nicht so häufig. Mir begegnet eher die Sorge, dass „wir“ in der Minderheit seien und das christliche Abendland zu existieren aufhört. Ich frage dann, was denn eigentlich das Konstitutivum für das christliche Abendland ist. Ein Kreuz in Büros, oder gibt es da noch mehr zu zu sagen? Nominell sind „wir“ immer noch in der Mehrheit, selbst wenn viele sich innerlich von Kirche verabschiedet haben. Die Ängste sind darin begründet, dass nicht jeder, der sich Christ nennt, eigentlich weiß, wovon er redet. Muslime wissen in der Regel über ihren Glauben besser Bescheid. Für mich ist das nach wie vor eine Aufgabe von Gemeinde oder Kirche überhaupt, Menschen sprachfähig über ihren Glauben zu machen, nicht drängend oder drohend, sondern in freundlicher Zugewandtheit und Festigkeit.

Pfingstsonntag halten Sie Ihren letzten Gottesdienst…

Ich habe mir gewünscht, mich mit diesem Gottesdienst von der Gemeinde zu verabschieden und im Anschluss daran Gelegenheit zu haben, mit vielen Leuten Kontakt zu kriegen, mich zu unterhalten, bei schönem Wetter auf dem Kirchplatz. Ich habe mir gewünscht, dass keine Reden gehalten werden. Im Gottesdienst wird mich der Vorsitzende des Presbyteriums entpflichten. Meinen Status der Ordination behalte ich bis ans Lebensende, im Ernstfall stehe ich für die Kirche immer zur Verfügung, sofern das die Kräfte zulassen. Man hat das Recht, im Auftrag der Kirche zeitlebens zu reden, und das werde ich auch tun, ich kann mich doch nicht verleugnen.

Worüber werden Sie Pfingstsonntag predigen?

Über den Predigttext dieses Sonntags aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther. Schwerpunktmäßig geht es um die Frage, wer deutet eigentlich das, was in der Gemeinde gilt? Der letzte Satz lautet: „Wir aber haben Christi Sinn.“

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