Wilnsdorf/Siegen. . Tamara Schmidt aus Wilnsdorf verliert in einem Siegener Klinikum ihre Brust, weil sie angeblich Krebs hat. Doch: Laborproben wurden vertauscht.

„Und plötzlich ist nichts mehr wie es war … Im Januar 2015 bekam ich die niederschmetternde Diagnose: Brustkrebs. Der Moment, in dem die Welt für einen kleinen Augenblick aufhört, sich weiter zu drehen.“ – Tamara Schmidt.


Beim Eincremen bemerkt Tamara Schmidt aus Wilnsdorf ein Knötchen in der Brust. Sie geht zum Frauenarzt, der sie zu einem Kollegen schickt. Doch auch dieser ist sich unsicher, was genau mit der Frau los ist. Auf dem Ultraschallbild sehen die Experten eine Masse in der Brust. Vermutlich Mikrokalk. „Das kann ein Hinweis sein für Brustkrebs“, sagt Tamara Schmidt. Der Arzt will eine weitere Meinung hören, denn in Schmidts Familie gibt es bereits Fälle von Brustkrebs. Schmidt landet 2015 im Diakonie-Klinikum Jung-Stilling, in dem ihr Gewebeproben entnommen werden.

Der Anfang einer langen Leidensgeschichte

Was dann folgt, ist ein Schock: Diagnose Brustkrebs, schnell wachsend, aggressiv. „Zumal der Radiologe sagte, er hätte mit dem Chirurgen gesprochen und eine Behandlung wäre nur mit Abnahme der Brust möglich“, erinnert sich Schmidt. Doch was die heute 38-Jährige damals nicht ahnt: Diese Diagnose ist nicht ihre. Sie hat keinen vernichtenden Krebs. Laborproben wurden vertauscht. Der Anfang einer langen Leidensgeschichte.


„Rückblickend habe ich auch Fehler gemacht. Nach der Diagnose war ich vollkommen kopflos, habe mich blind auf das verlassen, was der Arzt – der Spezialist – mir geraten hat.“

Tamara Schmidts rechte Brust soll aufgrund der Befunde abgenommen werden. Die Ärzte informieren Tamara Schmidt über den geplanten Eingriff. „Es war zunächst nicht klar, ob sie mir eine neue Brust machen können“, erzählt Schmidt. Denn die 38-Jährige ist nierenkrank und hat eine dünne Haut. „Ich habe viel geweint ... das konnte doch nur ein schlechter Film sein, dachte ich.“ Als Frau nur noch eine Brust zu haben, erscheint der Wilnsdorferin schrecklich. Ihre Fraulichkeit ist ihr wichtig. Doch als schließlich der Behandlungsplan steht, heißt es, ihr solle ein Silikonimplantat eingesetzt werden. Zunächst ist Schmidt erleichtert. „Man kommt nicht auf die Idee, das anzuzweifeln“, so Schmidt. Zurückblickend sagt sie, sie sei immer weitergereicht worden, in eine Art Trott ­hineingeraten. Ihr habe die Zeit zum Durchatmen gefehlt.

Schmidt teilt ihre Geschichte öffentlich

 

Bereits rund 7000 Menschen haben den Text, den Tamara Schmidt auf ihrer Facebookseite öffentlich gepostet hat, geteilt. „Ich war total überrascht“, sagt sie. Aufgrund der Länge ihres Textes habe sie mit so einer Reaktion nicht gerechnet. Ihr Ziel: Aufmerksam machen und anderen Frauen Mut zusprechen, sich zu wehren und eine zweite Meinung einzuholen. Und das Feedback? Viele Menschen sprechen Schmidt Mut zu.

"Du hast es super wiedergegeben, was dir alles passiert ist. Ich bin selbst betroffen und erlebte Unfassbares diesbezüglich und wäre ich nicht genauso wie du hartnäckig gewesen, dann wäre ich womöglich nicht mehr da!"

Liliane S.

"Ich bin sehr schockiert über deine Zeilen und was du alles erlebt hast. Ich wünsche dir ganz viel Mut, Kraft und positive Energie, das Leben von seinen schönen Seiten zu betrachten. Ich muss deine Geschichte erst einmal verarbeiten."

Annette Z.

"Man kann nur stinksauer sein. Eine 2. Meinung ist überlebenswichtig. Ich will die Kompetenz eines Arztes nicht in Frage stellen, nur man darf nicht alles glauben."

Inge R.

"Mir ist Ähnliches passiert und während ich fast drei Jahre im Krankenhaus verbrachte wegen eines Arztfehlers, hatte ich die Gelegenheit, bei vielen anderen Patienten zuzuschauen, bei denen unglaubliche Fehler passierten."

Tatjana N.

"Deine Geschichte ist kaum fassbar. Ich bewundere dich für deinen Mut und deine Ehrlichkeit und die Klugheit, deine Lebensfreude zurückzugewinnen und andere wach zu rütteln."

Helene R.

"Danke für diesen Beitrag, sehr gut dargelegt und vollkommen realistisch erzählt. Hätte ich meinem Hausarzt vertraut, wäre ich jetzt vom Hals ab querschnittsgelähmt. Ich hatte nochmals Glück."

Elke D.

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„Auf Grund der schwerwiegenden Diagnose und der für mich unglücklichen Bildgebung riet man mir zu einer Mastektomie, der Entfernung der rechten Brust mit umgehender Silikoneinlage.“

Es ist Februar 2015, die OP beendet. Die 38-Jährige fühlt sich zunächst relativ fit. „Aber mir ist früh aufgefallen, dass die Brust viel höher war und sie war steif beim Liegen.“ Wie ein Eisberg habe die harte Brust gestanden. Schmidt sucht das Gespräch. „Mein Körper brauche Zeit, sich damit abzufinden, hieß es“, sagt Schmidt. Sie vertraut den Ärzten im Brustzentrum.

Falsches Geburtsdatum

Beim Scrollen durch ihre Handybilder wird sie jedoch nach wenigen Tagen stutzig. Im Krankenbett entdeckt sie auf dem Foto ihrer Gewebeprobe, dass dort zwar ihr Name, aber nicht ihr Geburtsdatum steht. „Das hat mir keine Ruhe gelassen. Ich habe eine Schwester angesprochen.“ Diese sei nervös geworden und habe mit dem Radiologen gesprochen. Die Beteiligten beharren laut Schmidt darauf, dass alles in Ordnung sei. Sie wird entlassen. Bei der Nachuntersuchung gesteht der Chefarzt, was Schmidt ahnte: Die Proben wurden vertauscht.

„Fassungslosigkeit. Gemischt mit purem Entsetzen, ich wurde als gesunde Patientin falsch behandelt, eine kranke Patientin wurde als gesund nach Hause geschickt. Nur durch meine Hartnäckigkeit hatte man die Proben erneut analysiert und den Fehler festgestellt.“

Gutachter sieht groben Behandlungsfehler

Tamara Schmidt bekam ein Schmerzensgeld zugesprochen – wegen der vertauschten Proben, nicht aber für die darauf erfolgten Operationen und dabei begangenen Fehler, die die Patientin der Klinik weiterhin vorwirft.

Der gerichtlich bestellte Gutachter stellte fest: „Bei dem hier vorliegenden Sachverhalt einer Präparateverwechslung (...) handelt es sich um einen groben Behandlungsfehler. So etwas darf nicht passieren, hier bedarf es der Überprüfung des Risikomanagements (...).“

Der Gutachter: Bei der auf Grundlage der falschen Biopsie durchgeführten Therapie handele es sich nicht um einen Behandlungsfehler. Auch die Notwendigkeit der Eigengewebsrekonstruktion „beruhe nicht auf einer fehlerhaften Primärbehandlung“.

Plötzlich steht fest: Die Operation wäre zu diesem Zeitpunkt nicht zwingend gewesen. Ihre eigentliche Probe wies einen gutartigen Befund aus. Die Untersuchung des abgenommenen Gewebes zeigte laut Gutachter jedoch, dass rund neun Zentimeter Mikrokalk vorhanden waren – „und zwar mit einem bösartigen Befund“. Es wurden entartete Zellen gefunden, die sich im Laufe der Jahre gegebenenfalls zu Krebs hätten entwickeln können. Für Tamara Schmidt steht fest: Sie hätte eine Wahl gehabt. Möchte ich eine brusterhaltende Therapie und abwarten oder lasse ich mir die Brust abnehmen? Sie hätte dies gerne in Ruhe überdacht.

Probleme mit der neuen Brust hören nicht auf

Tatsächlich ist ihre Geschichte an dieser Stelle nicht vorbei. Die Probleme mit der neuen Brust hören nicht auf. „Ich konnte das Kissen durch die Haut fühlen“, sagt sie und vergleicht die Brust mit einer Rosine. Schmidt vertraut sich ihrer Freundin an und holt sich eine zweite Meinung. In einem Kölner Brustzentrum folgen weitere OPs. Das Kissen wird ihr entnommen, die Brust mit Eigengewebe konstruiert. Dafür entnahmen ihr Ärzte Gewebe vom Bauch. „Insgesamt musste ich fünf Mal operiert werden“, sagt Schmidt. Noch heute klagt sie über fehlende Kraft in ihrem Arm und wirft dem Siegener Arzt Pfusch vor.

Heute möchte ich euch wach rütteln. Ärzte sind eben nicht die viel zitierten Götter in Weiß. Verlasst euch nicht blind auf das, was sie euch sagen. Hört genau hin, macht euch schlau und holt euch immer, immer eine zweite Meinung ein.“

Tamara Schmidt hat geklagt und für die vertauschte Probe und die Abnahme der Brust Schmerzensgeld erhalten. Ihre Geschichte hat sie auf Facebook öffentlich gemacht. Sie möchte anderen Frauen Mut machen, nicht blind zu vertrauen. „Meine Botschaft ist: Eine Frau stirbt nicht sofort an Brustkrebs. Informiert euch und holt euch eine zweite Meinung“, so Schmidt. „Ich war total überrascht“, sagt Schmidt, „wie viele Frauen auf einmal einen Ansprechpartner gefunden haben.“ Mit einigen habe sie Kontakt aufgenommen. „Das bestätigt mich in dem, was ich mache.“

Keine Sanktionen für den Chirurgen

Tamara Schmidt ist wütend, dass der Chirurg keine Sanktion erhalten habe. „Ich habe das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Der, der das gemacht hat, kommt davon. Wie viele Fehler darf ein Arzt machen, bevor ihm seine Zulassung entzogen wird?“ Um Rache gehe es ihr aber nicht: In erster Linie wolle sie ermutigen, nach einer Diagnose nicht in Schockstarre zu verfallen.

„Wenn euch Ähnliches passiert ist – nicht schweigen. Wendet euch an eure Krankenkasse, an die Ärztekammer und bewertet eure Ärzte online – egal ob positiv oder negativ!“

>>> Das sagt das betroffene Siegener Krankenhaus zu den Vorkommnissen

Zum Brustzentrum Siegen-Olpe haben sich das Diakonie-Klinikum Jung-Stilling in Siegen, das St. Marien-Krankenhaus in Siegen und das St. Martinus Hospital in Olpe zusammengeschlossen. Die drei kooperierenden Kliniken agieren jedoch innerhalb des Verbunds selbstständig.

Im Fall von Tamara Schmidt ist das Klinikum Jung-Stilling betroffen. Das Haus äußert sich wie folgt zu den Vorkommnissen:

„Wir bedauern den Krankheitsverlauf der Patientin im Jahr 2015 in unserem Hause. Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler – das ist im medizinischen Bereich allerdings dann oft mit besonders ernsten Folgen verbunden. Von daher tut uns leid, was passiert ist. Die Patientin hat im November 2017 in einem rechtskräftigen gerichtlichen Vergleich, dem sowohl ausdrücklich sie als auch wir zugestimmt haben, eine Entschädigung erhalten. Damit hat das Ereignis auch für uns einen Abschluss gefunden. Dass die Entschädigung nicht alles Erlittene aufwiegen mag bzw. kann, ist uns bewusst. Wir wünschen der Patientin für die Zukunft alles Gute. Den damaligen Vorfall haben wir zum Anlass genommen, Abläufe auf den Prüfstand zu stellen und Verbesserungen vorzunehmen.“