Kreuztal. Interview mit Herbert Hoß, Leiter des Gymnasiums Kreuztal, über den Weg zu G 9, Prognosen und ein Jahr ohne Abi.
Die letzten Entscheidungen darüber, ob und wie die Gymnasialzeit wieder von acht auf neun Jahre verlängert wird, sind noch nicht gefallen. Die Gymnasien müssen sich dennoch jetzt schon auf die Umstellung vorbereiten.
Darüber hat Steffen Schwab mit Herbert Hoß gesprochen. Oberstudiendirektor Hoß leitet seit 2002 das Städtische Gymnasium Kreuztal; er gehört dem Vorstand der westfälisch-lippischen Direktorenvereinigung an.
Hat bei den Anmeldungen zu den 5.Klassen G 9 bereits eine Rolle gespielt?
Herbert Hoß: Sehr untergeordnet, nur in vereinzelten Fällen.
Was beschäftigt Sie im Moment im Zusammenhang mit G 9?
In diesen Tagen beginnen die Arbeiten an den neuen Lehrplänen. Wir wollen dazu aus der Praxis Impulse geben, indem zum Beispiel meine Fachschaft Mathematik ein paar Aspekte aufschreibt, von denen man glaubt, dass sie wichtig sind, in neue Lehrpläne einzufließen. Für uns wichtig ist, dass wir jetzt zügig Beschlüsse fassen. Am 19. Februar haben wir uns in der Lehrerkonferenz mit der Frage auseinandergesetzt, ob wir der Leitentscheidung des Ministeriums folgen und zu G 9 übergehen.
Das gleiche werden wir Anfang März in der Schulpflegschaft tun, damit die Eltern ihr Votum liefern können, und final werden wir dann vor den Osterferien in einer Schulkonferenz für unsere Schule eine Entscheidung treffen, die noch nicht rechtsverbindlich ist. Das wird erst nach den Sommerferien möglich sein, denn das neue Schulgesetz ist noch nicht verabschiedet. Wir wollen aber jetzt Klarheit herbeiführen, damit der Schulträger (die Stadt Kreuztal, d. Red.) weiß, wie es mit dem Gymnasium weitergeht.
Sie können doch G 9, Sie müssen doch gar nichts neu machen…
Ja, wir können G 9. Wir haben ja am langen Ende auch G 8 gekonnt. Trotzdem muss man jetzt die Chance nutzen, dass es jetzt neue Lehrpläne gibt. Es gab Lehrpläne bis zum Jahr 2005 für G 9, da ist das eine oder andere entrümpelt worden.
Genauso muss man jetzt sehr genau hingucken, dass man nicht den Fehler macht und Inhalte in die zusätzlichen Stunden hineinpackt und andere Dinge vergisst.
Wir haben jetzt fünf Jahre Sekundarstufe 1. Wenn wir das sechste Jahr, das jetzt hinzukommt, auf die anderen fünf verteilen, sind das sieben Wochen pro Jahr. Wenn ich mir bewusst mache, dass es den Schülern in Fächern wie Englisch, Deutsch oder Mathematik sehr gut tut, wenn sie zwei bis drei Wochen mehr Übungszeit haben, dann bleibt ein Zeitraum von vielleicht vier Wochen, der mit zusätzlichen Inhalten gefüllt werden kann.
Wir wollen darauf achten, dass der Effekt, den G 9 haben soll: Üben, anwenden, vertiefen, nicht zu kurz kommt. Als Lehre aus G 8 stellen wir fest, dass die zweite Fremdsprache deutlich zu kurz gekommen ist…
Die wird ja dann erst wieder in der 7 und nicht mehr schon in der 6 eingeführt.
Das ist noch nicht sicher beschlossen. Lateinlehrer weisen darauf hin, dass am Ende der Sekundarstufe 1 das Latinum vergeben werden könnte, wenn es beim Beginn in Klasse 6 bleibt. Die zweite Baustelle ist das Fach Mathematik. Da ist manches seit 2005 aus den Büchern verschwunden, das wichtig ist.
Sie haben auch schon darauf hingewiesen, dass Sie für den zusätzlichen Jahrgang zusätzliche Räume brauchen. Der Platz hat aber doch schon einmal für neun Jahrgänge ausgereicht…
Die Anforderungen an Schule haben sich verändert: Betreuung über Mittag, Inklusion, Integration. Wir haben einen Zusatzbedarf an Differenzierungsräumen. Wenn ich zum Beispiel in einer Jahrgangsstufe 6 zieldifferent zu unterrichtende Kinder habe, die nicht Französisch oder Latein lernen, werden sie in dieser Zeit anders unterrichtet, aber sicher nicht auf dem Flur. Ab 12.30 Uhr ist bei uns Hausaufgabenbetreuung und die allgemeine Betreuung für die Jahrgangsstufen 5 und 6. Das sind Gruppen von 30 Kindern, dafür reicht ein Raum mit 30 Quadratmetern nicht aus.
Sie haben in den letzten Jahren Infrastruktur für den verlängerten Schultag geschaffen, eine Cafeteria zum Beispiel. Braucht man solche Einrichtungen in Zukunft nicht mehr?
Die Cafeteria wird weiterhin ihre Nachfrage haben. Wir haben keine eigene Mensa, sondern nutzen die Mensa der Gesamtschule mit. Mit Blick auf die Umstellung, die jetzt kommt, wäre die eigene Mensa eine Fehlinvestition gewesen. Bei uns ist der Unterricht in der Sekundarstufe 1 flächendeckend um 13.40 Uhr zu Ende, wir haben durch das 60-Minuten-Modell, das wir vor vier Jahren eingeführt haben, keinen Nachmittagsunterricht, denn wir dürfen an einem Schulvormittag 300 Minuten unterrichten.
Ist das auch ein Grund, dass Sie in Zeiten von G 8 so stark nachgefragt worden sind?
In der Schulkonferenz und in der Schulpflegschaft habe ich in jedem Jahr nachgefragt, ob wir daran etwas ändern wollen, das war aber nicht gewünscht. Es mag bei der einen oder anderen Einschulungsentscheidung eine Rolle gespielt haben.
Bei G 9 kommen die Kinder dann noch früher nach Hause?
Darüber müssen wir in den nächsten zwölf Monaten nachdenken. Wir wissen jetzt, dass die Schüler in der Sekundarstufe 1 188 - 45-Minuten-Wochenstunden haben sollen, acht Stunden davon für ergänzende Angebote. Wenn ich von der Mindestzahl von 180 Stunden ausgehe, wären das 30 45-Minuten-Stunden pro Woche, das sind 24 Zeitstunden. Wir könnten also noch etwas nach vorn rücken, ich weiß aber nicht, ob wir das tun. Es ist mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, der Berufstätigkeit von Eltern nicht zu vereinbaren, dass Kinder um 12 Uhr nach Hause kommen und dort niemanden vorfinden.
Sie haben kürzlich in einem Schreiben an die Stadt vorausgeschaut bis 2027, wenn der erste G-9-Jahrgang entlassen wird, und auf besondere Konsequenzen hingewiesen, zum Beispiel für den letzten G-8-Jahrgang, der jetzt in der 5 ist.
Wenn ein Schüler die Versetzung nicht schafft, käme er in den G-9-Jahrgang und wechselt in ein neues Lehrplangefüge. Gravierender ist, dass er zwei Jahre verliert. Im G-8-Zug wäre er nach der Klasse 9 in die Oberstufe gekommen, jetzt wiederholt er ein Jahr und macht dazu die Jahrgangsstufe 10.
Die andere Konsequenz ist, dass es in einem Jahr für Seiteneinsteiger, die aus der 10 von anderen Schulformen in die gymnasiale Oberstufe wechseln möchten, kein Angebot gibt.
Jedenfalls nicht am Gymnasium. Es wird ein Jahr geben, in dem es den Jahrgang EF nicht gibt. Genauso gibt es ein Jahr, in dem von den Gymnasien keine Abiturienten kommen. Das wird die Hochschulen in neun Jahren bewegen.
Wie intensiv behandeln Sie solche Fragen in Ihren Fachkreisen?
Ich bin Mitglied im Vorstand der westfälisch-lippischen Direktorenvereinigung, wo wir schon darüber nachdenken.
Haben Sie denn Vorschläge, daran etwas zu verändern?
Es ist noch nicht klar, wie viele Gymnasien zusätzlich etwas anbieten für besonders leistungsstarke Schüler. Die könnten in dem betroffenen Jahrgang doch eine kleine, feine Oberstufe haben.
Also mit Schülern, die einen Jahrgang überspringen?
Ein konzeptbegleitetes Überspringen in Gruppen wäre zu installieren: Mit entsprechender Vorbereitung können Schüler in kleinen Gruppen vom Ende des ersten Halbjahres der 10 durchaus in das zweite Halbjahr der 11 springen.
Würde das an jeder Schule angeboten?
So weit sind wir noch nicht. Es würde Sinn machen, das zu konzentrieren.
In Zeiten von G 8 standen zwei Wege zum Abitur nebeneinander: Der eine über acht Jahre am Gymnasium, der andere über neun Jahre über Gesamtschule oder Seiteneinstiege. Worin wird sich das G-9-Gymnasium von anderen Schulformen noch unterscheiden?
Wir sind uns sicher, dass wir den Anspruch, den das Gymnasium haben muss, zu einer vertieften Bildung in Sprachen und Naturwissenschaften zu führen, deutlich herausstellen werden. Hier müssen wir uns auf unsere Stärken besinnen.
Dann werden Sie aber nicht mehr 50 Prozent eines Grundschuljahrgangs aufnehmen können.
Die 50 Prozent haben wir hier nicht, wir haben jetzt etwas mehr als ein Drittel des Jahrgangs aufgenommen. Angesichts der Zeugnisse und Grundschulempfehlungen bin ich sehr zuversichtlich, dass wir mit diesem Jahrgang gut durchkommen werden.
Es stellt sich die Frage, ob bei stärkerem Blick auf Fachlichkeit, auf Inhalte, auf naturwissenschaftliche Bildung das erfolgreich sein kann. Wir wissen aber im Moment auch nicht, ob die Politik die Zugangsberechtigung zum Gymnasium verändert oder der Elternwille weiterhin entscheidend sein wird.
Solche offenen Fragen helfen Eltern, die jetzt oder in einem Jahr vor einer Entscheidung stehen, nicht weiter.
Deshalb müssen wir in Beratungsgesprächen den Eltern sehr deutlich zeigen, welches Risiko man geht und was es für ihr Kind bedeuten kann, wenn es auf ein Gymnasium geht. Wir führen mit jedem Elternteil und dem Kind gemeinsam ein Beratungsgespräch. Manchmal raten wir dann ab, und in einer Reihe von Fällen führt das auch dazu, dass Eltern ihren Wunsch noch einmal überdenken.
Wie entwickelt sich eigentlich die Zahl der so genannten Abschulungen?
Die war in den 1980er Jahren höher. Seit 2005 ist die individuelle Förderung leitendes Prinzip im Schulgesetz. Fördermaßnahmen und –pläne haben dazu geführt, dass wir manche Kinder durch eine gymnasiale Laufbahn bekommen, die vor 30 Jahren noch nach der Klasse 6 „abgeschult“ worden wären. Wobei ich mich mit dem Begriff schwer tue – es geht nicht darum, Kinder wegzudrängen, sondern für sie den besten Förderort zu finden.
Was brauchen Sie für G 9 konkret in Kreuztal?
Wir müssen schon jetzt sehr sorgfältig die fachlich-inhaltliche Seite planen. Es wäre zum Beispiel Unfug, jetzt viel Geld in neue Schulbücher zu investieren. In etwa einem Jahr werden wir die neuen Lehrpläne haben. Dann gilt es, diese bis zu den Sommerferien 2019 in hausinterne Lehrpläne zu transformieren und dann auch entsprechendes Lehrmaterial auszuwählen. Digitalisierung und Stärkung der ökonomischen Bildung sind weitere Baustellen. Auch da wird man Zeit brauchen, um das vernünftig zu planen.
Schon der aktuelle Schulentwicklungsplan stellt für das G-8-Gymnasium ein Defizit von zehn Kurs- und Differenzierungsräumen fest. Wie viel zusätzlichen Platz benötigen Sie?
Wir können nicht absehen, wie dieses neue Gymnasium G 9 von den Eltern angenommen wird. Die Prognosen schwanken: Es wird massiven Andrang geben, weil ein Jahr dazukommt. Oder Eltern sagen sich, dass sie ihr Kind dann auch genauso zur Gesamtschule schicken können. Bei gleichbleibenden Bedingungen brauchen wir für einen zusätzlichen Jahrgang von 85 bis 105 Schülern vier zusätzliche Klassen- oder Kursräume und genauso viele Differenzierungsräume. Ich muss in den nächsten Wochen mit dem Schulträger sprechen.
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