Kredenbach. . Erstmals erinnert im Siegerland ein Stolperstein an einen Mann, der von den Nazis als Homosexueller verfolgt und ermordet wurde

Stolpersteine setzt Gunter Demnig, um zu erinnern: An Menschen, die Opfer der NS-Diktatur wurden. Da, wo sie gewohnt haben, bevor sie in die Konzentrationslager verschleppt wurden. Auch in Kreuztal und Hilchenbach ist Demnig, der seit 1992 mehr als 61 000 Stolpersteine hergestellt hat, die in ganz Europa gesetzt wurden, nicht zum ersten Mal.

Es gibt Stolpersteine für jüdische Opfer. Seit vorigem Jahr auch für zwei Sozialdemokraten, weil sie Zwangsarbeitern zur Seite gestanden haben. Und nun, in Siegen-Wittgenstein zum ersten Mal, für einen Mann, der als Homosexueller verfolgt und ermordet wurde. Am Freitag, 15. Dezember, 15 Uhr setzt Demnig den Stolperstein in der Jung-Stilling-Straße 9 in Kredenbach. Die Grünen-Fraktion hat die Patenschaft übernommen, neben Björn Eckert spricht Bürgermeister Walter Kiß. Und Jürgen Wenke, der das Schicksal von Al­fred Freudenberg recherchiert hat.

Das Kredenbacher Leben

Bedingt tauglich.

Alfred Freudenberg kommt am 20. November 1893 in Kredenbach zur Welt, ist Sohn eines Modellschreiners, macht eine Dreher-Lehre. Ist Soldat im ersten Weltkrieg, kehrt als „Kriegsbeschädigter“ – so hieß es damals – zurück. Heiratet 1924 – seine Frau Lina Anna ist die Schwägerin seiner Schwester. Im selben Jahr kommt Tochter Elfriede zur Welt. 1937 bekommt Freudenberg wieder einen Wehrpass, „bedingt tauglich“. 1939 zeichnet die Schützengruppe der „Kriegerkompanie Kredenbach-Lohe“ ihr Mitglied mit einer Ehrenurkunde aus. Am 2. September 1940 wird Alfred Freudenberg verhaftet.

Die Verschleppung

Versagen von Herz und Kreislauf.

Jürgen Wenke, in Bochum lebender Psychologe und ehrenamtlicher Mitarbeiter der Beratungsstelle Rosa Strippe, ist in den Akten des KZ Dachau auf den Namen von Alfred Freudenberg gestoßen. Von ihm erfahren Freudenbergs Enkelkinder, was nach diesem Tag geschehen ist: In Siegen wird Freudenberg vor Gericht gestellt, wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 175 zu drei Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt. Bis 1943 sitzt er seine Strafe in Siegburg ab. Unmittelbar nach Verbüßung der Strafe wird der „Sittlichkeitsverbrecher“ in „polizeiliche Vorbeugehaft“ genommen. Vom Polizeigefängnis in der Steinwache in Dortmund führt sein Weg am 7. Dezember ins KZ ­Natzweiler im Elsass, am 4. März 1944 nach Dachau. Der Häftling mit der Nummer 64942 trägt den Rosa Winkel, die von den Nazis verwendete Kennzeichnung für Homosexuelle. Am 23. Februar 1945 stirbt Alfred Freudenberg im Alter von 51 Jahren. Angebliche Todesursache: „Versagen von Herz und Kreislauf bei Darmentzündung.“

Erst am 22. Februar 1946 erfährt die Familie von Alfreds Tod, es gibt eine Mitteilung aus der Verwaltung des ehemaligen KZ. „Der Großvater ist im KZ umgekommen.“ Das, so Jürgen Wenke, ist die Information, die an die vier Enkel überliefert wurde. „Sie wussten, dass er in Dachau gestorben war. Über den Grund wurde nicht geredet.“ Diese Klarheit hat Wenke dem noch im Haus des Großvaters lebenden Enkel geben können. „Er war erfreut, dass er eine Erklärung gefunden hat.“ Die Nachkommen unterstützen Wenkes Forschung, das Lebensbild des schlanken, hochgewachsenen, schon früh grauhaarigen Mannes rundet sich ab. Wobei, wie Jürgen Wenke betont, Fragen offen bleiben: „Wir wissen nicht, ob Alfred Freudenberg homosexuell war“ – fest steht eben nur, dass er deshalb verurteilt wurde.

Das Vergessen

Endlich ist das Thema da.

Das Schicksal von Alfred Freudenberg ist das erste, das mit einem Stolperstein im Siegerland öffentlich wird. Es war nicht das einzige. „Es gibt Hinweise“, weiß Kreisarchivar Thomas Wolf, der die Recherchedatenbanken der deutschen Archive regelmäßig auf Siegener Bezüge abgleicht. In der Regel setzen sich die Lebenswege schwuler Siegerländer fern der Heimat in den Großstädten fort. „Die Szene in Siegen kann ich mir nur sehr klein vorstellen.“ Datenschutz erschwerte Recherchen, Angehörige hatten wenig Interesse an Öffentlichkeit. „In der Regel sind diese Opfer ganz schnell unter das allgemeine Vergessen geraten“, sagt Wolf. Inzwischen ändere sich das, „die Nachfahren gehen sehr viel offener damit um.“ So wie in Kredenbach: „Man kann nur hoffen, auf solche familiäre Situationen zu stoßen. Mit Alfred Freudenberg ist das Thema endlich da.“

Die Gegenwart

Unter uns leben noch viele alte schwule Männer.

Jürgen Wenke hat die Kreuztaler Grünen gefragt, ob sie die Patenschaft für den Stolperstein für Alfred Freudenberg übernehmen – die einzige Partei, die von ihrer Gründung an die Streichung des Paragrafen 175 und die Wiedergutmachung für die Überlebenden in ihrem Programm hatte. Das Thema ist nicht Geschichte, stellt Wenke klar: „Unter uns leben noch viele alte schwule Männer.“ Soll heißen: Männer, die nach dem Paragrafen 175 verurteilt wurden – oder hätten verurteilt werden können. Manche Lebensgeschichten sind schwer erträglich. Die von dem Mann, der 1965 verurteilt wurde – nur 23 Jahre nach der Ermordung seines Onkels in Sachsenhausen. Wenn er selbst früher geboren wäre? Die Nazizeit, glaubt Jürgen Wenke, hätte auch er nicht überlebt.

Schlussstrich?

Rehabiliert.

Alfred Freudenberg wird 2002 rehabilitiert. Der Bundestag hebt die §-175-Verurteilungen aus der NS-Zeit auf.

>>> Fünf Fragen an Jürgen Wenke

1 Was war der Auslöser für Ihr Engagement?

Jürgen Wenke: Ich habe beobachtet, dass sich in fast allen Städten Initiativen für die Verlegung von Stolpersteinen gebildet haben – aber nur wenige, die an homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Da habe ich mich vor zehn Jahren, zunächst in Bochum, auf den Weg gemacht. Mittlerweile habe ich mehr als 30 Lebenswege recherchiert, die zu Stolpersteinen in Bochum, Düsseldorf, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hattingen, Remscheid, Solingen, Trier, Velbert, Witten und Wuppertal führten und jetzt erstmals in Siegen-Wittgenstein. Es waren fast überall die ersten Steine für Homosexuelle.

2 Was ist das Besondere an der Recherche von Schicksalen homosexueller Männer?

Sie sind mobiler, was unter anderem auch auf das Versteckspiel zurückzuführen ist, zu dem sie gezwungen waren. In den 1920er und 1930er Jahren sind viele in die großen Städte gezogen. Wenn man also ihren Geburtsort kennt, weiß man noch längst nicht, wo der Stolperstein zu verlegen ist, wo also ihr letzter frei gewählter Wohnort gewesen ist.

3 Wie finden Sie die Namen der Opfer?

Meist über die Häftlingslisten der Konzentrationslager. In einer wissenschaftlichen Arbeit wurde die Liste aus Sachsenhausen ausgewertet, mir liegen die aus Buchenwald und Dachau vor. Die Kennzeichnung lautet zum Beispiel „BV 175“. „BV“ steht für „Berufsverbrecher“. Als solcher galt, wer mehr als einmal einen Mann „verführt“ hat, also nach dem Paragrafen 175 verurteilt wurde. Es tauchen aber auch die Bezeichnungen „175“ oder „Homo“ oder auch „widernatürliche Unzucht“ auf.

4 Wie leicht oder wie schwer ist das denn, Lebenswege homosexueller Opfer des Nationalsozialismus zu rekonstruieren?

Man muss schon hartnäckig sein. Das ist ein Puzzlespiel über Sterbeurkunden, die im KZ anzugebenden Namen von Bezugspersonen, Heiratsurkunden von Eltern, Geschwistern… Das hängt von der Quellenlage bei der Befreiung ab: Wie viele Akten wurden vorher noch vernichtet? Zum Glück hat das Stolperstein-Projekt ein großes Renommee, das öffnet die Türen, auch der Archive. Denn ohne wissenschaftliches Interesse gilt zum Beispiel der Datenschutz für Geburtsurkunden von 110 Jahren, für Sterbeurkunden 30 Jahre.

5 Wie viele Stolpersteine sind denn noch zu recherchieren?

Das ist eher die Frage, wie lange ich noch lebe. Ich könnte noch Tausende von Stolpersteinen vorbereiten. An manchen Orten sind nach der Verlegung des ersten Stolpersteins ehrenamtliche Initiativen entstanden, die die Arbeit fortsetzen.

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