Siegen. . Medienwissenschaftler Timo Schemer-Reinhard spricht im Interview über den Wandel der Fotografie, Bildsprache und die Bedeutung von Fotos.
- Der Wandel von analoger zu digitaler Fotografie bewirkt weitreichende Veränderungen
- Neue Bildsprachen entstehen schneller – und innerhalb neuer sozialer Prozesse
- Interview mit dem Medienwissenschaftler Timo Schemer-Reinhard
Es ist gar nicht lange her, da waren Fotos etwas Besonderes. Dank digitaler Technik kann inzwischen aber jeder immer und überall fotografieren – und fast jeder tut es auch. „Wir sind mitten in einem Umbruch“, sagt Timo Schemer-Reinhard, Medienwissenschaftler an der Uni Siegen und ausgebildeter Fotograf. Ein Gespräch über Bedeutung und Wandel der Fotografie.
Weltweit fotografieren die Menschen so viel wie nie zuvor, Schätzungen gehen von hunderten Millionen neu aufgenommenen Bildern aus – und das pro Tag. Verändert das die Fotografie und ihre Rolle?
Schemer-Reinhard: Selbstverständlich. Das ist aber ein Allgemeinplatz, die Bedeutungen von Medien ändern sich ständig. Fotografieren wurde im Laufe der Zeit sowieso immer einfacher. Aber die digitale Fotografie hat noch einmal einen enormen Vereinfachungsschub gebracht.
Noch vor 20 Jahren war die Sache für Laien mit Aufwand verbunden...
Bilder machen kostet heute quasi nichts mehr. Das ist ein Riesenunterschied zu früher, wo man einen Film kaufen und entwickeln lassen musste. Heute sehe ich auf dem Display sofort, wie ein Bild geworden ist – früher war das ein Geheimnis, weil man den Abzug erst nach Tagen zu Gesicht bekam. Und heute hat auch fast jeder automatisch immer eine Kamera dabei, im Smartphone. Außerdem ist die Verbreitung unheimlich einfach. Sie müssen nicht mehr zum Dia-Abend einladen, um anderen ihre Bilder zu zeigen. Sie laden sie einfach auf Facebook oder Instagram hoch.
Wie wirken sich diese Faktoren auf die Bilder aus?
Früher hat man wesentlich genauer geguckt, was man fotografiert. Man hat ein Bild geplant und gestaltet, bevor man es aufgenommen hat. Heute macht man ein Bild einfach mal, schaut es sich an – und wenn man nicht zufrieden ist, macht man es in veränderter Form noch einmal. Das geschieht oft zusammen mit dem Fotografierten. Früher war man dem Fotografen viel mehr ausgeliefert, heute ist die Gestaltung oft ein sozialer Prozess. Das ermöglicht auch, dass sich schnell neue Bildsprachen entwickeln.
Schneller als früher?
Inszenierungsformen bilden sich heute sehr, sehr schnell heraus. Das liegt daran, dass wir sofort Feedback bekommen, etwas anpassen und uns so rasch ans perfekte Bild annähern können. So ein Prozess war früher gar nicht möglich. Oder er hätte Monate gedauert.
Warum sehen dann so viele Bilder im Internet gleich aus? Plötzlich taucht eine Mode auf, und dann machen alle ein Duckface, springen in die Luft oder fotografieren sich im Spiegel in standardisierten Posen.
Das war aber schon früher so. Familienporträts zum Beispiel sind in ihrem Aufbau von jeher hochgradig standardisiert, und sie sind es bis heute. Was jetzt anders ist: Junge Leute bekommen binnen kurzer Zeit hunderte Bilder zu sehen, greifen Ideen auf und schalten sich so in den Prozess ein. Die Entwicklung neuer Formen ist deshalb deutlich beschleunigt.
Macht das die Bilder besser?
Ich sehe keinen Grund, kulturpessimistisch zu werden. Aber insgesamt ist durch die Digitalfotografie die Qualität der Fotos im Schnitt gesunken, weil man vor dem Auslösen eben nicht mehr so genau überlegen muss. Das gilt allerdings nicht mit Blick auf die Spitze. Wer früher schon gut fotografieren konnte, wird es auch heute können. Es ist technisch nur einfacher.
Gibt es Verlierer dieses Vereinfachungsprozesses?
Das mittlere Segment der Profi-Fotografie ist durch die Digitalfotografie fast komplett weggebrochen. Früher gab es in jeder Kleinstadt ein Fotostudio. Das ist längst nicht mehr so. Eine wichtige Einnahmequelle für diese Fotografen war die Industrie. Unternehmen brauchen oft Bilder von ihren Werkstücken in verschiedenen Stadien, und weil die gut werden mussten, gingen sie zum Profi. Heute gibt man einem Lehrling im Betrieb ein Handy und sagt: ,Mach mal’.
Als dauerndes Fotografieren noch keine Selbstverständlichkeit war, hatten gerade private Fotos für Menschen hohen emotionalen Wert. Nimmt diese Bedeutung angesichts der heutigen Bilderflut ab?
Dieser Gedanke ist weit verbreitet. Der Wert sinkt natürlich in gewisser Weise, weil Fotos machen einfacher und billiger geworden ist. Es gibt diese besonderen Bilder aber noch. Das sieht man zum Beispiel daran, dass viele junge Leute Profil- und Avatarbilder sehr genau auswählen, aufwändig bearbeiten – und damit wertschätzen. Außerdem stelle ich in den letzten Jahren fest, dass es wieder mehr Interesse an analoger Fotografie gibt. Im kommenden Wintersemester werde ich sogar eine Arbeitsgemeinschaft für analoge Fotografie – einschließlich Entwicklung im Labor – starten.
Was bedeutet die Fotoflut für eine Gesellschaft? Wohin man geht, überall wird fotografiert.
Was wir erleben, ist, dass eine Foto-Ethik entstehen muss. So etwas ist ein typischer Prozess in der Entwicklung von Medien: Erst kommt eine Technik, dann müssen die Leute lernen, wie man damit umgeht. Meines Erachtens sind wir da mitten in einem Umbruch; in der Phase, in der sich Apokalyptiker und Euphoriker noch streiten. Es geht vor allem auch um die Frage, wann ich jemanden fotografieren und unter welchen Bedingungen ich das Bild verbreiten darf. Ich sehe das aber entspannt. Ich bin sicher, dass unsere Gesellschaft das lernen wird.
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