Siegen. . Wissenschaftler der Universität Siegen arbeiten an einer digitalisierten Welt – und suchen auch Antworten auf damit verbundene Ethikfragen.

  • Die Universität Siegen beschäftigt sich im Projekt „Vernetztes Dorf“ mit ethischen Fragen in der Technik
  • Es geht darum, wie Menschen mit technischer Unterstützung lange selbstständig und selbstbestimmt leben können
  • Kritisch zu sehen sei die Generierung von Daten, die der Nutzer selbst liefert, weil sie abgegriffen werden können

Die Grenze zwischen großartig und gruselig ist schmal, wenn es um die Möglichkeiten der Digitalisierung geht. Wissenschaftler der Uni Siegen sind mit dem Projekt „Cognitive Village/Vernetztes Dorf“ bei der Entwicklung der Technik ganz vorne dabei – aber auch bei der Suche nach Antworten auf die ethischen Fragen, die sich mit jedem Schritt stellen.

Chancen

Die 84-Jährige steht später auf als üblich. Ihr Puls ist etwas schwach. Sie bewegt sich weniger als sonst, geht nicht zum Frühstück in die Küche, sondern gleich ins Wohnzimmer. Dort bleibt sie länger sitzen als gewöhnlich. Der Activity-Tracker an ihrem Handgelenk und der bewegungssensitive Boden übermitteln die Daten an den ambulanten Pflegedienst. Kurz darauf schaut ein Mitarbeiter nach, ob es der Dame gut geht oder ob ein Notfall vorliegt.

„Es gibt sehr viele Chancen. Wir profitieren enorm von den Entwicklungen“, sagt Prof. Carl Friedrich Gethmann vom Forschungskolleg der Uni Siegen (Fokos). Er ist Mitglied des Deutschen Ethikrats und im „Cognitive Village“ für ethische Begleitforschung zuständig. Das Projekt ist vor allem auf die Herausforderungen in der alternden Gesellschaft gerichtet – darauf, wie Menschen mit technischer Unterstützung möglichst lange selbstständig und selbstbestimmt leben können.

Bereits zum heutigen Zeitpunkt sind, wie das Beispiel zeigt, erstaunliche Szenarien denkbar. „Aber man kann das sehr weit treiben“, sagt Gethmann. So könnten Pflegedienste oder Angehörige die Wohnungen alter Menschen auch komplett mit Kameras ausstatten, und „da stellen sich Fragen der Privatheit und Intimität“, außerdem nach Datenschutz. Gethmann: „Man sollte bei aller Euphorie die Probleme nicht unterschlagen.“

Daten

D ie Stimme des jungen Mannes klingt in letzter Zeit bedrückt; Sensoren im Smartphone haben die Veränderung registriert. Laut GPS-Daten des Geräts ist er weniger aktiv; laut Wearable schläft er schlechter, im Google-Verlauf taucht der Suchbegriff „Suizid“ auf. Ist es Zufall, dass die Bank auf einmal den Kredit verweigert und der Arbeitgeber die Beförderung nicht mehr in Aussicht stellt?

Noch vor zehn Jahren verstand man unter „User generated Content“ Texte, Fotos und Videos, die Menschen gezielt ins Internet stellten, sagt Projektkoordinator Prof. Marcin Grzegorzek vom Lehrstuhl für Mustererkennung. Über Smartphones und Wearables – also am Körper zu tragende Geräte wie Armbänder, die Vitaldaten erfassen – „generieren wir auch Content; mit dem Unterschied, dass es über uns selbst ist, über unseren physischen Zustand“. Das Ausmaß sei vielen Menschen nicht bewusst, „viele wissen gar nicht, wie viele Sensoren ihre Smartphones haben“. Kritisch zu sehen sei dies vor allem „,weil wir Daten liefern, die abgegriffen werden können“ – etwa von Versicherungen oder Arbeitgebern.

Offiziell sollte das natürlich nicht so sein. Doch „der Deutsche Ethikrat ist der Überzeugung: Das klassische Datenschutzkonzept ist gescheitert“, sagt Gethmann. Anonymisierte Daten ließen sich entschlüsseln, wenn jemand es darauf anlegt. Wer und unter welchen Bedingungen auf Informationen zugreifen darf, muss also geregelt werden. Aber „gerade da, wo Wissenschaft an vorderster Front ist, ist rechtlich wenig geregelt, weil der Gesetzgeber hinterherläuft“, sagt Gethmann. Hinzu kommt das weltweite Umfeld. Nationale Gesetzgebung stößt so an ihre Grenzen, „deshalb ist ethische Begleitforschung unerlässlich“.

Verbindungen

Die Informationen, die der junge Mann digital geliefert hat, sind jeweils für sich genommen relativ unverdächtig. Aus der Kombination aber leitet eine Software Hinweise auf Depressionen ab. Die Folgen für den Mann sind eklatant – aber das Ergebnis basiert auf Algorithmen. Und es kann falsch sein.

Viele der zur Anwendung kommenden Algorithmen waren schon in den 1980er Jahren bekannt, erläutert Grzegorzek. Relativ neu ist hingegen „der Zugang zu großen Datenmengen“, zu „Big Data“. In der Mustererkennung ist das entscheidend. Zeige man einem kleinen Kind beispielsweise eine geringe Anzahl von Flaschen, sei es fortan in der Lage, Flaschen als solche auch zu identifizieren, wenn es ein Exemplar erstmals sehe – weil das Muster anlegt ist. Damit eine Maschine dies leisten könne, seien „unglaubliche Mengen“ an Beispielen erforderlich.

Mittlerweile sind Daten aber in enormem Umfang verfügbar, sei es über Objekte, Vitalfunktionen, Stimmlagen, Bewegungsprofile. Aus der Verbindung ziehe Software Schlüsse. „Je mehr Quellen, Sensoren, Daten vorliegen, um so geringer die Fehlerquote. Aber sie ist noch vorhanden“, sagt Grzegorzek.

Entscheidungen

Der Unfall ist unausweichlich. Der Fahrassistent des Autos hat die Situation erfasst und sieht nur drei Alternativen: Den Wagen in eine Kindergruppe zur Linken lenken, auf einen älteren Herren zur Rechten – oder geradeaus vor einen Baum. Soll die Technik entscheiden – oder der Mensch im Auto?

Das Szenario wird im Kontext mit autonom fahrenden Autos häufiger bemüht, denn es bringt die Schwierigkeit auf den Punkt. In allen sensiblen Bereichen, betont Gethmann, „muss ein Mensch immer noch die Oberhoheit haben“, müsse etwa ein Arzt, Erzieher oder Seelsorger entscheiden können, wenn auch technisch unterstützt. Die Frage, ob alles, was technisch machbar ist, auch wünschenswert und vertretbar sei, sei „ein Grauzonenproblem. Dafür braucht es Urteilskraft, das erfordert Fingerspitzengefühl“. Bei alldem müssten die Potenziale von Big Data und Digitalisierung gesehen werden. „Wir wissen, dass in zehn bis 20 Jahren unsere Pflegesysteme zusammenbrechen“, sagt Grzegorzek. Die Motivation für die Forscher der Uni Siegen seien „die Probleme des demografischen Wandels, die nun einmal da sind. Wir müssen Lösungen finden, und wir müssen zu Kompromissen bereit sein.“

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