Weidenau. . Participatory Design: Forscher vom Lehrstuhl IT für die alternde Gesellschaft der Uni Siegen beteiligen die Zielgruppe am Entwicklungsprozess.

  • Lehrstuhl IT für alternde Gesellschaft schult Senioren im Umgang mit digitaler Technik
  • Technische Anwendungen speziell auf Anforderungen und Fähigkeiten zuschneiden
  • Diskrepanz zwischen technisch machbar, ethisch vertretbar und praktisch sinnvoll

Brigitte Muus hat Kuchen gebacken – und was für welchen –, der Kaffee läuft durch und die Tablets sind aufgestellt. An diesem Freitagmorgen trifft sich die Technikbande in der Seniorenwohnanlage Siegbogen. Die Technikbande sind Menschen verschiedener Altersstufen, mehrheitlich Senioren, die in dem Komplex wohnen; alle paar Wochen bekommen sie Besuch von Prof. Claudia Müller, Lehrstuhl IT für die Alternde Gesellschaft der Uni Siegen und ihren Mitarbeitern. Gemeinsam mit der Technikbande erarbeiten sie in Workshops die Themen Computer und Internet.

Zuallererst wurde eine Telegram-Gruppe eingerichtet, für den Austausch. Nicht bei WhatsApp, wegen der Datensicherheit, das war ihnen wichtig. Es kommen Grüße aus dem Urlaub, witzige Bildchen und sie probieren viele Emoticons aus.

IT – es geht darum, Senioren, die meist wenig Erfahrung haben mit Messengern, Browsern, WLAN und Apps fit zu machen, damit sie als potenzielle Konsumenten mitreden können, wenn es darum geht, digitale Produkte zu entwickeln. „Participatory Design“, heißt dieser Ansatz (siehe Zweittext), die Zielgruppe entwickelt quasi mit. Darum sind die Forscher da: Damit die, die noch nicht so versiert sind, mitreden können. Und gleichzeitig schult die Technikbande die Forscher, was sie brauchen, was sie wollen, wo es noch hakt.

Für Brigitte Muus ist Facebook Routine. Sie erzählt von der Gruppe „Bergsüchtig“, den tollen Landschaftsaufnahmen, dem Austausch mit Gleichgesinnten – und den Diskussionen mit denen, die anderer Meinung sind. Wenn sie mal nicht weiterweiß, „nehm’ ich Google“, sagt sie, „da find’ ich alles.“ Angetan hat es ihr Wikipedia. Wenn sie etwas interessiert, liest sie viel. „Und wenn der Laptop abstürzt, gehe ich mit dem Handy ins Internet.“

Die Stunden vergehen dabei schnell, „ich überlege oft“, sagt Ursula Bogatzki, „ob ich nicht meine Zeit vertan habe.“ Ihr ist ein persönliches Gespräch lieber, aber „das muss jeder für sich entscheiden.“ Prof. Müller schaltet sich ein: „Eine wichtige Frage: Das richtige Maß zu finden“, betont sie.

Thema heute: Google Drive, eine kostenlose Anwendung, über die mehrere Benutzer gleichzeitig an einem Dokument arbeiten können, ohne lästige E-Mails hin- und herschicken zu müssen. „Die Technik spinnt wieder“, sagt David Struzek, wissenschaftliche Hilfskraft. Er fummelt an den Kabeln, neuer Versuch, dann klappt es. „Über Google Drive kann man gut Notizen austauschen“, sagt Müller und schlägt vor, dass die Gruppe ein Protokoll führen könnte, das sie dann zu Übungszwecken hochlädt.

Alternde Menschen kommen mitunter nur schlecht mit, sobald sie einigermaßen sicher im Umgang mit Technik sind, hat sie sich schon weiterentwickelt. David Struzek beruhigt: „Viele Studenten haben da auch Schwierigkeiten“, sagt er. „Wenn ich sehe, was die Kinder heute schon alles mit den Dingern anfangen können“, sagt Brigitte Muus fröhlich. Struzek wiederholt noch einmal die Erklärungen vom letzten Treffen: Dass man Google Drive zum Daten sichern nutzen kann, Fotos auf Reisen zum Beispiel, „wenn was mit der Kamera passiert, sind die Bilder trotzdem noch da.“

Gesellschaft funktioniert heute kaum noch ohne Internet, Handy, PC – als die Mitglieder der Technikbande jünger waren, gab es das alles noch nicht. „Englisch habe ich in der Schule nicht gelernt“, sagt Ursula Bogatzki, sie kann nicht mit allen Begriffen etwas anfangen.

Also haben sie eine Wörterliste im gemeinsamen Ordner angelegt, die nach und nach gefüllt wird, wie ein Vokabelheft. Wer etwas weiß, trägt es für die anderen ein, die können es weiter ergänzen – oder Fragen stellen. „E-Mail – elektronischer Brief“, steht da zum Beispiel, oder „Wikipedia – Online-Lexikon“. Brigitte Muus trägt unter F „Facebook – Kommunikationsforum, übersetzt Gesichtsbuch“ ein. „Das ist ja toll, ich sehe, was Brigitte schreibt“, bemerkt Ursula Bogatzki.

David Struzek erzählt von der „Marmeladenoma“, einer Frau, die via Internet live Kinderbücher vorliest. „Das mache ich auch, wenn man damit Geld verdient“, scherzt Brigitte Muus. Auf Facebook hat sie Kuchenbackanleitungen gesehen – und wo wir grade dabei sind: Wäre Google Drive nicht gut, um Rezepte auszutauschen?

Nächstes Thema: Einen Unterordner erstellen. Im Ordner „Technikbande“ sind alle möglichen Dateien, jetzt sollen sie sortiert werden. „Einfach auf’s blaue Plus“, erklärt David Struzek. Brigitte Muus legt ein Protokoll für die Sitzung an. Im Chor ist sie Schriftführerin, im Berufsleben hat sie mit PC gearbeitet, vor Jahren schon hat sie sich einen Laptop gekauft, „praktischer beim Schreiben als das Tablet“, findet sie. Mit dem Handy dauert’s länger, „aber ich probiere einfach.“

Alle Anleitungen, etwa wie man WLAN am Tablet einschaltet, sind digital gespeichert, zur Sicherheit haben alle eine Mappe mit säuberlichen Notizen – eine Gewohnheitssache. „Übersichtlicher und handlicher“, findet Ursula Bogatzki.

Schluss für heute; Johanna Kühne, die alle Hanni nennen, erhebt sich. Sie hat etwas für ihre Enkel im Internet bestellt, das erste Mal in ihrem Leben. Frau Kühne ist eine elegante Dame, sie zeigt das nicht so, aber David Struzek sagt: „Sie ist sehr stolz darauf, dass sie die Technik so nutzen kann.“

Wissenschaftler als Brückenbauer

Ziel des Projekts Cognitive Village: Technische Anwendungen speziell auf Anforderungen und Fähigkeiten von Senioren im ländlichen Raum zuschneiden, als Hilfe im Alltag, etwa um länger in der eigenen Wohnung zu leben.

Der Forschung von Prof. Claudia Müller und ihrem Team liegt das das Prinzip „Participatory Design“ zugrunde, die späteren Konsumenten werden eingebunden in die Entwicklung. Eine Hürde: Sprache. „Zuerst haben uns die Teilnehmer den englischen Projekttitel um die Ohren gehauen – zu Recht“, sagt Müller, „wir haben sofort eine deutsche Ergänzung – ,das vernetzte Dorf’angefügt, damit sie sich nicht unwohl fühlen.“

Konzept

„Wenn man die Leute mitnimmt, ist am Ende das Ergebnis besser“, sagt Müller. Viele Informatiker entwickeln Technik, weil es geht. „Es gibt aber oft eine Diskrepanz zwischen technisch machbar, ethisch vertretbar und in der Praxis sinnvoll.“ Und Sinn könne man nicht abfragen, den müsse man ausprobieren. Dafür gibt es Testgruppen wie die Weidenauer Technikbande. Die Forscher holen die Senioren dort ab, wo sie stehen, bringen ihnen die digitale Welt näher, damit sie später routiniert sind im Umgang mit internetbasierten Anwendungen, einschätzen können, ob sie etwas brauchen oder eben nicht.

Dahinter steht auch eine ethische Haltung: Die Senioren werden entscheidungsfähig, als Partner. Sie lernen die Technik kennen, die Forscher im Gegenzug, was sie überhaupt entwickeln sollen. Von einer „Symmetrie des gegenseitigen Nicht-Wissens“ spricht Müller: „Informatiker wissen viel über Technik, aber wenig über Anwendungsfelder.“ Nutzer haben Bedürfnisse, kennen sich aber wenig mit Technik aus. An diesem Spalt sehen sich die Wissenschaftler als Brückenbauer.

Anwendungen

  • Die Informatiker haben einen Chatbot programmiert, ein Programm, das Nachrichten schreibt, um an die Kommunikation mit Maschinen zu gewöhnen. In Verbindung mit Sensortechnologie könnte daraus später eine Anwendung für zu Hause entstehen: Ein virtueller Assistent, der etwa daran erinnert, die Medikamente zu nehmen.
  • Mustererkennung: Aus großen Datenmengen können abweichende Entwicklungen herausgelesen werden. Mit Industriepartnern arbeiten die Forscher an einem intelligenten Boden, der den Gang einer Person analysiert. In Bad Berleburg-Elsoff trainieren Senioren in einem Sportraum mit einem intelligenten Teppich: Durch kontinuierliches Training erkennen Sensoren Veränderungen, können rechtzeitig Hinweise auf Stürze geben.
  • Intelligente Brillen mit auf die Augen gerichteten Sensoren können Symptome erkennen und Alarm schlagen, ähnlich wie Smartwatches, die Blutdruck und Puls überwachen. „Es gibt Firmen, die damit werben, dass ihre Systeme detektieren können, ob man in ein paar Jahren Demenz bekommt“, so Müller. Damit berührt ihre Forschung einen wichtigen Aspekt: Ethik. Möchte ich das wirklich wissen?
  • Über einen Video-Monitor-System im Dorfladen können Senioren von zu Hause selbst schauen, welche Waren im Angebot sind – ein enormes Stück Lebensqualität. Über eine Interneplattform bringt ein Nachbar die Einkäufe mit.

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