Siegen. . Das Schlosstheater Celle hat mit einem Theaterstück über die Lebensgeschichte von Mehmet Daimagüler bei der Siegener Biennale beeindruckt.

„Deutschland ist meine Heimat und mein Zuhause. Manche versuchen, mich zum Fremden zu erklären. Aber das wird nicht gelingen.“ Diese Sätze ganz zum Ende eines Theaterabends im Apollo-Zelt sind das Ergebnis des bewegten Lebenslaufs von Mehmet Gürcan Daimagüler, der von Niederschelden aus zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten Deutschlands wurde.

Daimagüler hat seine bisherige tragisch-komische Lebensgeschichte im Buch „Kein schönes Land in dieser Zeit“ beschrieben, das vor sieben Jahren auf den Markt kam. Das war noch vor der Zeit der Aufdeckung der Mordserie an türkischstämmigen Mitbürgern durch die sogenannte NSU, bei dessen juristischer Aufarbeitung er sich als Anwalt von Opferfamilien einen prominenten Namen gemacht hat.

Das Schlosstheater Celle hat Daimagülers Buch für das Theater eingerichtet. Zwei Schauspieler versetzen sich in die Rolle von Mehmet und spielen markante Stationen seines Lebens. Dieses Leben beginnt in Niederschelden, wohin seine Eltern mit Oma und Kindern von Istanbul aus zogen.

Das dortige Stahlwerk hatte Mehmets Vater eine Arbeit angeboten und die Kinder sollten es einmal besser haben. Geplant waren höchstens vier Jahre, und auf die Frage an die Mutter: „Was hättest du anders gemacht, wenn du gewusst hättest, dass ihr länger bleibt?“ antwortet diese: „Alles“.

Der Junge soll den Mund halten

In der Grundschule seines Heimatorts bekommt Mehmet eine Sonderschul-Empfehlung. Der Junge solle in Zukunft den Mund halten, wenn er in der Schule bleiben wolle, ist die Bedingung seines Lehrers. Das tut er, bis der Mann der mobilen Bibliothek in die Klasse kommt.

Mehmet möchte ein Buch, also bricht er sein erzwungenes Schweigen und nennt seinen Namen. Der Zugang zu Büchern macht ihn zu einem normalen kleinen Jungen, der seinen Vater zur Ausländerbehörde und zu Elternsprechtagen begleitet um zu übersetzen.

Und immer bleibt die Sehnsucht nach Heimat. Die Eltern sehen sie in der Türkei, die Kinder in Niederschelden. Obwohl Mehmet jede Menge Ablehnung erfährt, etwa wenn Eltern von Mitschülern ganz unverblümt sagen: „Du sollst keinen Türken mitbringen“ oder behauptet wird „Du stinkst“.

Nach der Grundschulzeit ist Mehmet in einigen Fächern der Beste – und bekommt dennoch eine Hauptschul-Empfehlung. Der Lehrer: „Ein Türkenjunge auf dem Gymnasium. Wie stellt ihr euch das vor?“ Katrin, seine erste Freundin, wird als „Türkenflittchen“ bezeichnet.

Ein Ratschlag von Recep Erdogan

Mehmet weiß: „Ich muss stark werden.“ Dass ihn das über das Abitur, ein Jura-Studium in Bonn, in den Bundesvorstand einer Partei und bis zu den Elite-Unis Harvard und Yale in den USA bringt, und dass er einige Zeit Assistent des ehemaligen Innenministers Baum wird, ist hinlänglich bekannt.

Dass er 2007 beim Welt-Wirtschaftsgipfel in Istanbul eine Rede hält, direkt nach Recep Erdogan, wissen nur Eingeweihte. Der türkische Präsident damals zu Daimagüler: „Dein Englisch ist gut, dein Türkisch verbesserungswürdig.“

„Deutschland bedeutet mir sehr viel. Alles, was ich erreicht habe, verdanke ich meinen Eltern und Deutschland“, sagt Mehmet Daimagüler. Auch der Hass auf Migranten, der sich vor allem nach der Vereinigung Deutschlands entlädt – die Brandanschläge auf Häuser türkischer Familien mit über zehn Opfern, das jüngste vier Jahre alt – ändert daran nichts. Und auch nicht die aktuelle Debatte über die Ursachen der ins Stocken geratenen Integration.

Ein außergewöhnlich bewegtes Leben von mehr als 40 Jahren in knapp 90 Minuten auf kleiner Spielfläche darzustellen: Dirk Böther und Rasmus Max Wirth vom Schlosstheater Celle schlüpfen gleich doppelt in die Person von Mehmet Daimagüler und spielen dessen Rolle fast beängstigend authentisch.

In Monologen oder Streitgesprächen, manchmal flüsternd, dann wieder schreiend, oft verzweifelt bei Konflikten mit seinem Vater und nur selten jungenhaft fröhlich. In hohem Sprechtempo und fast zum Anfassen dicht am Publikum. Das wird ins Spiel einbezogen und man spürt türkische Gastfreundschaft, in dem die Auftrittsfläche in eine große Tafel verwandelt wird und die Schauspieler Tomatensuppe servieren. Die gebannten Zuschauer applaudieren lange und im Stehen.

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